Vor 60 Jahren fällt der kamerunische Freiheitskämpfer Felix Roland Moumié in Genf einem Mordanschlag mit Rattengift zum Opfer. Anhand von Dokumenten aus dem Schweizer Bundesarchiv wird dieses vergessene Verbrechen nachgezeichnet.
Dr. Felix Roland Moumié wähnt sich an diesem Abend in Sicherheit: Am 15. Oktober 1960 sitzt er im „Plat d’Argent“, einem der besten Restaurants in der Genfer Altstadt, mit seinem Sekretär und einem Journalisten zusammen. Dieser William Bechtel interessiert sich für Moumiés politische Überzeugungen als Anführer der kamerunischen Oppositionspartei Union du Peuple Camerounais (UPC). Moumié redet so begeistert, dass er übersieht, ein Glas Pernod zu leeren, das als Aperitif gereicht wurde. In eben diesen Drink hat Bechtel ein Gramm Thallium gemischt. Dabei handelt es sich um langsam, aber tödlich wirkendes Rattengift. Denn was Moumié nicht ahnt, Bechtel ist in Wirklichkeit Geheimagent und hat den Auftrag, ihn zu liquidieren.

Weil Moumié den Pernod nicht anrührt, lenkt Bechtel seine Gesprächspartner mit Fotos ab und schüttet eine weitere Gift-Dosis in ein Rotwein-Glas. Doch dann passiert das Unvorhergesehene: Moumié trinkt beide Gläser leer. Das ruiniert den perfiden Mordplan: Eigentlich sollte Moumié aufgrund der schleichenden Wirkung von Thallium erst am darauffolgen Tag auf dem Rückflug nach Guinea erkranken – nun zeigen sich die Vergiftungssymptome nach wenigen Stunden, als er noch in seinem Genfer Hotelzimmer liegt.
„Die unangenehme Tatsache“, dass Moumie noch „auf Schweizerboden“ zum Opfer geworden war, spricht der Generalsekretär des Eidgenössischen Politischen Departementes, Robert Kohli, nachträglich in einem Schreiben vom 9. Dezember 1960 an: „Dieser Umstand ist für uns umso unerfreulicher, as es uns bisher dank der Wahcsamkeit der zuständigen Organe im Großen und Ganzen gelungen ist, vom schweizerischen Territorium politische Abrechnungen dieser Art, die dem Ansehen unseres Landes abträglich sein können, fernzuhalten.“
Am Abend des 16. Oktober 1960 wird Moumié ins Genfer Kantonsspital eingeliefert. Aber es hilft nichts: Der 34jährige verliert Haare und Zähne, kann bald nicht mehr sprechen oder schreiben und fällt schließlich ins Koma. Nach zweieinhalb Wochen elendem Todeskampf stirbt Moumié am 3. November 1960. Angeblich soll er nur noch kurz gemurmelt haben: „Die Rote Hand hat mich vergiften lassen.“

Die „Rote Hand“ (Main Rouge) verbreitete seit Anfang der 1950er Jahre Angst und Schrecken. Angeblich eine Femeorganisation französischer Ultrarechter verbarg sich dahinter der Auslandsgeheimdienst DGESE (damals SDECE). Unter dem Deckmantel der „Roten Hand“ konnten Frankreichs Spione Attentate auch auf fremden Territorium begehen. Unter anderem wurde 1952 der Generalsekretär der Tunesischen Arbeiter-Gewerkschaft Ferhat Hached in Tunis erschossen. 1957 tötete eine Autobombe den deutsche Waffenhändler Georg Puchert in Frankfurt am Main. Er hatte die algerische Befreiungsfront FLN beliefert – ebenso wie sein Schweizer Kollege Marcel Leopold, den im selben Jahr aus einem Blasrohr abgefeuerter Bolzen tödlich verletzte. Tatort war auch in diesem Fall Genf, wo bis heute Fäden des internationalen Waffenhandels zusammenlaufen.
Die Auswahl der Ziele der „Roten Hand“ ließ keinen Zweifel, gegen was sich dieser Staatsterror richtete: Gegen Vorkämpfer und Sympathisanten der Entkolonialisierung. Denn das französische Kolonialreich in Afrika und in Südostasien befand sich seit Ende der 1940er Jahre im Zerfall. Im Unterschied zu anderen Kolonialmächten leistete Frankreich aber lange harten Widerstand, auch weil die Unabhängigkeitsbestrebungen als Teil der kommunistischen Bedrohung im Kalten Krieg wahrgenommen wurden. Und gegen eben diesen Feind schien der Einsatz aller Mittel gerechtfertigt.

Wie war nun Moumié ins Visier der „Roten Hand“ geraten? 1960 hatte die französische Kolonie Kamerun nach einer Volksabstimmung die Unabhängigkeit erhalten. Aber der Einfluss Frankreichs blieb so groß, dass bis heute argumentiert wird, dass Kamerun eigentlich nie entkolonialisiert wurde. Moumiés UPC hatte seit 1955 einen Partisanenkrieg gegen die französische Präsenz geführt und setzte den Widerstand auch nach der Unabhängigkeit fort. Der im Exil in Guinea lebende Moumié holte sich dafür Unterstützung von anderen Unabhängigkeitsbewegungen und reiste mehrmals nach Moskau und Peking.
Auch für die Schweiz erhielt er ein Visum: Am 17. August 1960 traf Moumié von Kairo aus kommend erstmals in Genf ein. Im Verlauf der darauffolgenden Wochen kam er noch weitere Male, um sich mit osteuropäischen Diplomaten zu treffen – aber auch um für 80.000 Franken Pistolen und Munition zu kaufen. Das schicksalhafte Treffen mit Bechtel wiederum war bereits im August 1959 eingefädelt worden, als dieser Moumié in Accra (Ghana) getroffen hatte.
Auch wenn der Mordplan Bechtels nicht ganz aufgegangen war, das Verbrechen blieb zunächst unentdeckt. Obwohl der studierte Mediziner Moumié selbst erklärt hatte, mit Thallium vergiftet worden zu sein, wurde dies „anfänglich nicht recht ernst genommen“, wie später übergeordnete Stellen beanstandeten. Erst nachdem chemische Analysen vorlagen, wurde erst am 27. Oktober 1960 ein Untersuchungsrichter mit dem Fall befasst.
Die polizeilichen Ermittlungen begannen weitere vier Tage später, am 31. Oktober 1960. Davor hatte Moumiés nachgereiste Witwe Martha schon große Probleme gehabt, die Überführung ihres toten Gatten zu organisieren. Als man diesbezüglich den Chef der Bundespolizei Andre Amstein informierte, meinte dieser, „dass es vom innenpolitischen Standpunkt nur zu begrüßen wäre, wenn die Leiche und mit ihr ein ganzer Rattenschwanz von Negern aus der Schweiz weggeschafft werden könnten.“
Jedenfalls wurden die vorhandenen Spuren nicht mit Vehemenz verfolgt. In einer Notiz für Generalsekretär Kohli vom 3. November 1960 wird beklagt: „Die Angelegenheit war den Genfer Behörden schon seit etwa 2 Wochen bekannt. Sie haben auch gewisse Ermittlungen angestellt, aber es leider unterlassen, die Bundesanwaltschaft zu verständigen, die ihrerseits zur Abklärung nicht unwesentlich hätte beitragen können. So hat sich herausgestellt, dass am Essen, an dem Moumié vergiftet worden sei, offenbar ein Schweizerbürger namens Bächtel (sic!) anwesend gewesen sei. Dieser steht seit einem halben Jahr unter der Kontrolle der Bundesanwaltschaft, die in ihm, ganz unabhängig von der Moumié-Affäre, einen Agenten der Franzosen vermutet. Sollte sich dies bestätigen, so würde der ‚französische Hintergrund‘ (Main Rouge) der Vergiftungsaffäre ein neues Licht erhalten.“
Gegen Jahresende wurde überhaupt ein vernichtendes Urteil über die erste Ermittlungsphase gefällt: „Die Untersuchung ist von den Genfer Behörden in sehr amateurhafter Weise geführt worden. Es seien unbegreifliche Fehler vorgekommen.“
Am 17. Januar 1961 kam es deswegen zu einer hochrangigen Besprechung, an der neben Generalsekretär Kohli auch drei Bundesräte, der Bundesanwalt und Amstein teilnahmen. Es wurde festgehalten, dass Genf für die Bundesanwaltschaft überhaupt ein „Sorgenkind“ sei: „Polizei, Untersuchungswesen und Gerichte sind für einen derartigen Brennpunkt des internationalen Geschehens personell heute unzureichend dotiert. Man kann sich sogar fragen, ob gewisse Delikte nicht auf dem Gesetzgebungsweg von der kantonalen in die Bundeskompetenz überführt werden sollten, wie dies z.B. in den USA der Fall ist (Spionage, Kidnapping, etc.). Im Falle Moumié wurden die Genfer Behörden vom Spital mit großer Verspätung avisiert; sie haben außerdem zu Beginn der Untersuchung einige wertvolle Tage unbenützt verstreichen lassen.“
Wie es sich herausstellte war Moumiés Mörder Bechtel schon seit Juli 1960 unter Verdacht gestanden, ein Geheimagent zu sein. Der französisch-schweizerische Doppelstaatsbürger hatte seit 1958 in Genf gewohnt und sich als Mitarbeiter einer Presseagentur ausgewiesen. Tatsächlich versteckte sich hinter dem unscheinbar wirkenden 66jährigen Mann ein Elitesoldat, der in beiden Weltkriegen und im Indochina-Krieg gedient hatte und danach als Reservist für den DGESE tätig war. In einem von der Genfer Polizei gefundenen Tagebuch schrieb Bechtel über sich selbst: „Ich kann einem Mann den Hals brechen, ohne dass er Zeit hat zu schreien. Ich weiß, wie man tötet. Aber ich sehe harmlos aus.“

In Genf hatte Bechtel den Auftrag, Zielpersonen auszukundschaften – und davon gab es in der Schweiz genug, denn das neutrale Land war ein wichtiger Fluchtpunkt für antikoloniale Aktivisten. Darüber tauschte sich französische Geheimdienst auch mit Schweizer Kollegen aus. Belegt ist, dass die Bundespolizei während des Algerienkriegs Unterstützermilieus ins Visier nahm. Auch dürfte der Selbstmord von Bundesanwalt Rene Dubois am 23. März 1957 mit der diskreten Zusammenarbeit mit der DGESE in Verbindung stehen.
Dubois hatte Oberst Marcel Mercier, einer Schüsselfigur hinter der „Roten Hand“, Akten der Bundespolizei und des Nachrichtendiensts zugespielt. In diesen Dokumenten ging es um die Tätigkeit algerischer Aktivisten auf Schweizer Boden. Ob der Austausch auch im Fall Moumié eine Rolle spielte, lässt sich nicht rekonstruieren. Zumindest bestätigte der ehemalige DGESE-Leiter Maurice Robert in der TV-Dokumentation „Moumié – Der Tod in Genf“ (2004) „mit den Schweizer Diensten kooperiert“ zu haben, „wenigstens für eine gewisse Zeit.“ Die Neutralität der Schweiz sei damals „für Spezialoperationen“ nützlich gewesen.
Nur wenige Monate vor dem Giftmord, im Juni 1960, hatte der Berner Advokat Hans Ellenberger von der „Vereinigung christlicher Friedensarbeit“ bei zwei Gelegenheiten gemerkt, dass ihm ein Unbekannter sein Büro und sein Privathaus beobachtete. Ellenberger betreute nämlich algerische Flüchtlinge und schrieb diesen Gesuche sowie Stellenbewerbungen. Der Advokat konnte das Autokennzeichen des Verdächtigen eruieren. Man stellte fest, dass es sich um Bechtel handelte. Aber die Genfer Polizei gab sich mit dessen Ausflüchten zufrieden. „Es erfolgte Meldung nach Genf, doch verlief die Sache nachher im Sande“, bemängelte man später in der bereits erwähnten Besprechung bei Kohli. Dass Bechtel mit dem Genfer Polizeichef bekannt war, könnte mit eine Rolle gespielt haben.
Erst als Bechtel erfuhr, dass Moumié im Krankenhaus aufgenommen worden war, verlor er die Nerven und beging den zweiten schweren Fehler. Er flüchtete Hals über Kopf und ließ in seinem Landhaus in der Avenue Petit-Senn in Chêne-Bourg umfangreiches Beweismaterial zurück. Es fanden sich Hunderte Fotos von Autos, Autonummern, Häusergruppen, von Zollgebäuden an der französisch-schweizerischen Grenze sowie von Örtlichkeiten in Bern. Mit unsichtbarer Tinte waren darauf Instruktionen für mögliche Entführungen und Attentate verzeichnet worden. Auf einem Anzug Bechtels wurden winzige Thallium-Spuren entdeckt, ebenso wie Kopien eines Operationsplans gegen Moumié. Dessen Porträt sowie Bilder seiner politischen Weggefährten waren zwecks Tarnung in eine Briefmarkensammlung eingeordnet.
Das wichtigste Material aber war nicht greifbar. Am 28. Oktober 1960 soll Moumié in der Kantonalklinik einen Koffer mit Dokumenten und seiner „Kriegskasse“ einer Bekanntschaft anvertraut haben. Es handelte sich dabei um das 26jährige Callgirl Liliane Frily (oder Friedli), die er zwei Wochen vor seinem Tod in Genf kennengelernt hatte. Nun gab er ihr den Auftrag, umgehend nach Paris zu reisen und den Koffer in der Botschaft von Guinea in Sicherheit zu bringen. Frily tat wie geheißen und nahm nach der Rückfahrt zur Beruhigung eine Überdosis an Schlaftabletten ein, was ihr ebenfalls einen Klinikaufenthalt einbrachte.
Allerdings bliebt ihre Rolle undurchsichtig: Frily hatte die Vergiftungsnacht bei Moumié verbracht. Um fünf Uhr morgens am 16. Oktober 1960 läutete das Telefon und Bechtel war daran. Er fragte, „wie es seinem Freund Moumié gehe.“ Frily antwortete, dass ihm gar nicht gut sei, woraufhin Bechtel auflegte. Und was die Kurierfahrt nach Paris anging – der Empfang der Dokumente wurde von Guinea zwar bestätigt, aber gleichzeitig war man dort überzeugt, dass der Inhalt der Aktenmappe „vorher den Franzosen zum Photokopieren überlassen wurde“.
Außerdem fehlten insgesamt 300.000 Francs. In der internen Bestandsaufnahme wurde deswegen auch später beklagt, dass der „Komplex Frily“ von den Genfer Behörden „vielleicht zu wenig vertieft“ worden sei. Persönlich trug sie keinen Schaden davon. Frily wurde Inhaberin einer Privatklinik für wohlhabende Kundschaft und ist schon länger verstorben.

Bechtel hingegen hatte sich nach der Tat aus der österreichischen Hauptstadt Wien kurz zu Wort gemeldet: An einen Freund schrieb er, dass er mit dem Mord nichts zu tun habe. Pläne, nach Genf zurückzukehren, habe er aber keine. Denn jemand, der beschuldigt werde, den Eiffelturm gestohlen zu haben, der bleibe in Deckung, meinte Bechtel süffisant.
Die Sache wurde noch einmal ernst für ihn. 1974, 14 Jahre nach der Tat, wurde Bechtel bei der Einreise nach Belgien verhaftet und ausgeliefert. Beim Prozess in Genf zwei Jahre später stritt er alles an. Schließlich wurde er auf Kaution freigelassen. Das Verfahren selbst wurde ergebnislos eingestellt. Bechtel starb 1987. Der französische Geheimdienst hat ihn zeitlebens gedeckt und ihn unter dem Decknamen „Grand Bill“ geführt. Bis in den 1980er Jahren General Paul Grossin Journalisten die Geschichte von den vergifteten Drinks erzählte. Bechtel nannte er nicht beim Namen, bemängelte aber, dass dieser nicht eines der beiden Gläser umgestoßen hatte, um auf Nummer sicher zu gehen.
Der Mord an Moumié bleibt bis heute ein ungesühntes Verbrechen geblieben, das aber im Vergleich zu anderen Ereignissen wie der Ermordung des kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba (1961) in Vergessenheit geraten ist. Angesichts einer Welle neuer politisch motivierter Giftmorden in Europa, aber auch im Zusammenhang mit Debatten um „Black Lives Matter“ und die blinden Flecken des Kolonialismus ist dieser Fall so aufwühlend wie aktuell.
HINWEIS: Gekürzte Version ist am 15.10.2020 in der Schweizer „WOZ. Die Wochenzeitung“ erschienen https://www.woz.ch/2042/politischer-mord-in-genf/rattengift-zum-abendessen