Der Banker und die Bombe

Am 30. November 1989 wurde der deutsche Spitzenmanager Alfred Herrhausen ermordet. 35 Jahre nach dem Attentat ist immer noch unklar, wer dahintersteckte. Nun erzählt die ARD-Fernsehserie „Herr des Geldes“ Herrhausens Geschichte neu. Aber was geben Akteneditionen und Archivquellen zu den tatsächlichen Hintergründen des Anschlags preis? Eine Recherche.

Es war ein sonniger, aber klirrend kalter Novembermorgen. Alfred Herrhausen, der Sprecher der Deutschen Bank, verließ sein Haus in Bad Homburg, um sich ins nahe Frankfurt chauffieren zu lassen. Vorne und hinten von Sicherheitsleuten in zwei weiteren Limousinen abgeschirmt, fuhr Herrhausens gepanzerter Mercedes 500 den schmalen Seedammweg entlang – direkt in eine tödliche Falle.

Nach der Einfahrt zur Taunus-Therme war an einem Geländer ein silberfarbenes Jugendfahrrad angelehnt. Auf dem Gepäckträger befand sich eine Stofftasche. Darin enthalten war eine kegelförmige Einlage, die mit sieben Kilogramm gewerblichen Sprengstoffs geladen und mit einer nach innen gewölbten Kupferplatte verschlossen worden war. Diese Bombe war mit einem Lichtschrankengerät verkabelt, das auf einen Reflektor am gegenüberliegenden Begrenzungspfahl zielte. Als das Vorausfahrzeug vorbeigefahren war, aktivierten die Täter den Infrarotstrahl, der von Herrhausens Mercedes um 08.34 Uhr durchbrochen wurde.

Die so ausgelöste Detonation verformte die Kupferplatte zu einem Projektil, das mit enormer Geschwindigkeit den rechten Fond der Limousine traf. Das 2,8 Tonnen schwere Fahrzeug wurde von der Wucht herumgerissen und kam erst 40 Meter weiter zum Stehen. Die verheerende Wirkung war zentimetergenau berechnet worden und riss Teile der Panzerung heraus. Herrhausen wurde wahrscheinlich von einem solchen Metallsplitter an der Oberschenkelschlagader verletzt und verblutete innerhalb von Minuten. Sein Fahrer, der 62jähirge Jakob Nix, kam mit Verletzungen davon.

Die Rote Armee Fraktion (RAF), damals Deutschlands bekannteste linksextreme Terrorgruppe, reklamierte die Tat für sich. In Tatortnähe wurde unter einem elektrischen Messgerät ein weißes DIN-A5-Blatt gefunden, das in eine Klarsichthülle eingeschweißt war. Darauf prangte das RAF-Symbol und die Aufschrift „Kommando Wolfgang Beer“. Letzterer war ein RAF-Mitglied, das 1980 bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war.

Im Bekennerschreiben, das nachträglich am 2. Dezember 1989 veröffentlicht wurde, hieß es unter anderem: „Die revolutionären Prozesse sind die Erfahrungen, die aus der Agonie zwischen Leben und Tod heraus, hin zu einem entschlossenen Kampf für das Leben geführt werden. Am 30.11.1989 haben wir mit dem Kommando Wolfgang Beer den Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, hingerichtet, mit einer selbstgebauten Hohlladungsmine haben wir seinen gepanzerten Mercedes gesprengt.“

Bis heute deutet aber nichts darauf hin, dass die linksextreme Terrorgruppe zu einem solchen Attentat überhaupt in der Lage war. Denn so etwas wie diese Bombe hatte es bis dahin in Westeuropa noch nie gegeben. Der Ex-CIA-Agent Robert Baer meinte in seinem Buch über den „perfekten Mord“ (2014), der Herrhausen-Anschlag habe dem US-Secret Service schlaflose Nächte bereitet: Gegen diese Kombination aus Metalleinlage, korrekt geformten Sprengstoff und Infrarot-Auslösung sei kein US-Präsident sicher.

„Herr des Geldes“

Herrhausen, Absolvent einer NS-Eliteschule, war 1970 als Branchenfremder in die Deutschen Bank rekrutiert worden. Davor hatte er Leitungsfunktionen bei der Ruhrgas AG und den Vereinigten Elektrizitätswerken Westfalen wahrgenommen. Herrhausens Aufstieg war dennoch steil. 1985 wurde er Vorstandsprecher. Für das alltägliche Bankgeschäft interessierte sich Herrhausen wenig, dafür umso mehr für die Konzernentwicklung.

1989 widmete ihm der „Spiegel“ die Titelgeschichte „Herr des Geldes“. Darin hieß es über Herrhausen: „Mit seiner Neigung, über die Weltläufe nachzudenken; mit seiner Fähigkeit, das Ergebnis dieser Nachdenklichkeit in schöne Worte zu fassen – mit diesen Qualitäten überragt er die graue Schar der deutschen Spitzenmanager, deren Horizont nicht allzu weit über das Pförtnerhäuschen ihres Unternehmens hinausreicht.“

Herrhausen große Vision war der Einstieg der Deutschen Bank ins internationale Investmentbanking. Das Institut sollte sich zur Universalbank mausern, einem Global Player auf Augenhöhe mit den „Big Five“ der Wall Street. Mit der „freundlichen Übernahme“ der Londoner Bank Morgan Grenfell 1989 um 800 Millionen Pfund begann dieses Vordringen in die anglo-amerikanischen Kapitalmärkte. Infolge von Schuldenkrise 2007, Geldwäsche- und Korruptionsvorwürfen und schlechten Bilanzzahlen sollte sich das Engagement für die Deutsche Bank aber nicht so bezahlt machen, wie es Herrhausen vorgeschwebt war.

Im Unterschied zu seinen Nachfolgern an der Konzernspitze trat Herrhausen als moralische Instanz der deutschen Wirtschafft auf. Ihn trieb die Idee eines Schuldenerlasses für Dritteweltländer um. Dieser hätte deutsche Banken mit nur sechs Prozent offener Kredite in diesen Regionen freilich deutlich weniger stark getroffen, als US-amerikanische Institute mit über 35 Prozent an Verbindlichkeiten.

Ende 1986 schlug Herrhausen einen von westlichen Gläubigerregierungen, IWF, Weltbank und Geschäftsbanken zu finanzierenden Zinsausgleichfonds zur Diskussion. Dieser sollte dann eingreifen, wenn die Zinsbelastung eines Schuldnerlandes eine Höchstmarke überschritt. Aber wie aus einem Analysepapier des Auswärtigen Amts hervorgeht, war Herrhausen kein reiner Weltverbesserer, sondern dachte den Eigenvorteil stets mit. So gehe es im Kern des Vorschlags darum, Ertragsrisiken der Banken auf nicht kommerzielle Geldgeber (Regierungen, IWF, Weltbank)“ zu verlagern: „Anstatt das Zinsausfallrisiko der ausgegebenen Kredite selbst in Kauf zu nehmen, übertragen die Banken dieses auf den Ausgleichsfonds – unter Abwälzung beträchtlicher Finanzierungslasten auf u.a. die öffentliche Hand. Dies widerspricht grundsätzlichen ordnungspolitischen Vorstellungen der Bundesregierung.“

Noch unpopulärer waren Herrhausens Ideen in der eigenen Branche. Als er im September 1989 beim Jahrestreffen des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank in Washington war, reiste er vorzeitig ab, weil ihm die Luft „zu bleihaltig“ war.

Einer von Herrhausens Mitarbeitern erkannte im Idealismus seines Chefs dessen größte Schwäche: Man könne in der Deutschen Bank „nicht honorig und gleichzeitig erfolgreich sein“. Zutage trat dieser Widerspruch als sich Herrhausen 1988 für die Beteiligung der Daimler Benz AG an dem Rüstungs- und Luftfahrtunternehmen Messerschmidt-Bölkow-Blohm (MBB) stark machte und im Vorstand der Deutschen Bank dafür grünes Licht holte.

Kreditgeber für die Perestroika

Herrhausen war aber nicht nur ein Bankier, er war auch ein wirtschaftspolitischer Akteur, der im Machtgefüge des späten Kalten Krieges aktiv mitmischte. Die Wiedervereinigung war ihm ein besonderes Anliegen. Herrhausen engagierte sich für gute Beziehungen zu den Ostblockstaaten. Er wollte die Chancen, die sich aus der Reformpolitik des sowjetischen Staatschefs Michael Gorbatschow für die Deutsche Bank ergaben, aktiv nutzen. Hinzu kam, dass Herrhausen seit Mitte der 1970er Jahre mit Helmut Kohl bekannt war. Dieser bediente sich Herrhausens als Berater und schickte ihn ab 1987 mehrfach als Emissär nach Osteuropa.

Laut Herrhausens Biografin Frederike Sattler hatte Kohl rasch erkannt, dass sich auf Herrhausen „als Vermittler in diplomatisch heikler Mission verlassen konnte“. Der Bankier wiederum zögerte nicht, sich zur Verfügung zu stellen, „wann immer er gerufen wurde, weil er damit nicht nur seinem Freund, sondernd er Bundesrepublik einen Dienst erweisen konnte – und sich unter Umständen vielleicht auch ein geschäftlicher Vorteil für sein Haus ergeben könnte.“

Diese Rolle lässt sich anhand kürzlich freigegebener Akten zur deutschen Außenpolitik gut belegen:

  • Am 19. Oktober 1988 unterschrieb Herrhausen zuerst in Frankfurt und sechs Tage später im Kreml in Beisein von Kohl und Gorbatschow einen Rahmenvertrag über einen Kredit von drei Milliarden D-Mark. Die Summe wurde von einem Bankenkonsortium unter Führung der Deutschen Bank aufgebracht und ging an die Bank für Außenwirtschaftliche Beziehungen der UdSSR.
  • Dieser Deal war alles andere als uneigennützig. Mit den Geldern sollte die Sowjetunion bei rund 200 bundesdeutschen Firmen Produkte und Maschinen zur Modernisierung ihrer Konsumgüter-und Nahrungsmittelindustrie kaufen. Das Geschäft sei „fast ein Mittelstandsprogramm“, meinte ein Beteiligter. Tatsächlich aber war der Kredit bis Juni 1989 erst in Höhe von zwei Milliarden D-Mark ausgeschöpft, weil der Umbau der sowjetischen Wirtschaft konzeptlos verlief. Die Bundesregierung, die an der Vereinbarung weder beteiligt war noch den Kredit verbürgte, bewertete diesen dennoch „positiv als Beitrag zur Förderung der wirtschaftlichen Reformpolitik der SU [Sowjetunion] und der Integration der SU in die Weltwirtschaft“. Für Gorbatschow war der Geldsegen eine wichtige Unterstützung, weil jetzt auch andere europäische Banken bereit waren, Abkommen mit der Sowjetunion zu schließen.
  • Seit 1988 verfolgte Herrhausen das Projekt eines Hauses der deutschen Wirtschaft in Moskau, was insbesondere von Kohl gefördert wurde. Am 24. Oktober 1988 drängte dieser gegenüber dem Gorbatschow auf einen raschen Abschluss. In der Gesprächsnotiz heißt es: „Der Bundeskanzler erläuterte, dass die Finanzierung über die Deutsche Bank erfolgen solle. Er halte es für sehr wichtig, diesem Projekt noch einmal einen Anstoß zu geben. GS Gorbatschow erklärte sich einverstanden, dass beide Seiten an diesem Projekt weiterarbeiten sollten. […] Der Bundeskanzler sprach sich noch einmal für dieses Vorhaben aus, das angesichts der noch sehr unterschiedlichen Wirtschaftsstrukturen von großer Bedeutung sei. Die Deutschen könnten in einem solchen Haus ihre sowjetischen Partner treffen. GS [Generalsekretär] Gorbatschow habe ja in der Wirtschaftspolitik eine Art von kleiner Revolution durchgeführt. GS Gorbatschow nickte zustimmend.“
  • Das angepeilte Haus der deutschen Wirtschaft war in weiterer Folge auch Gegenstand einer Unterredung zwischen Kohl und dem sowjetischen Außenminister Eduard Schewardnadse am 12. Mai 1989. Zusammengefasst sagte Kohl: „Herr Herrhausen habe berichtet, dass sich das Projekt eines Hauses der deutschen Wirtschaft in Moskau gut entwickele. Das Grundstück, das dafür in Aussicht genommen sei, liege günstig. Aus diesem Projekt könne man etwas Gutes machen. Bei dem zunehmenden Interesse der deutschen Wirtschaft an dem Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion sei dies wichtig.“
  • Welchen Stellenwert Herrhausen als wirtschaftspolitisches Asset hatte, zeigte sich auch in einem Gespräch zwischen Außenminister Hans-Dietrich Genscher mit dem stellvertretenden US-amerikanischen Außenminister Lawrence Eagleburger am 6. September 1989. Man diskutierte „den Rat von Sachverständigen und Experten“, um Polen „im wirtschaftlichen, finanziellen und haushaltspolitischen Bereich“ zur Seite stehen: „BM [Bundesminister] nannte hier Herrn Herrhausen“.
  • Aus einem weiteren Dokument geht hervor, dass sich ein Legationsrat des Auswärtigen Amts am 2. Oktober 1989 bei Herrhausen nach dessen „Vorschlag der Schaffung einer polnischen ‚KfW‘“ erkundigte. Die KfW ist eine deutsche Förderbank. Herrhausen gab an, er habe mit seinem Vorschlag die politisch Verantwortlichen in den Geberländern problembewusst machen wollen. Er habe sich zwar zur konkreten Aufgabenstellung einer ‚polnischen KfW‘ noch keine Gedanken gemacht, könne sich aber Aktionsfelder im Bereich der Förderung des privaten Unternehmertums und der Übernahme von Exportgarantien und Investitionsbürgschaften vorstellen.“
  • Ungarn hatte am 11. September 1989 ab Mitternacht seine Westgrenze für jene DDR -Bürgerinnen und -Bürger geöffnet, die in Ungarn ausharrten. Im Vorfeld war Herrhausen von Kohl gebeten worden, nach Budapest zu reisen, um Lösungen für die prekäre Finanzlage Ungarns zu erörtern – weil „das übersteige die Kompetenz der Bundesregierung“. Ungarn bekam dann auch einen Kredit von 500 Millionen D-Mark, der schon länger verhandelt worden war.
  • Noch am Abend vor seinem Tod empfing Herrhausen in der Deutschen Bank den stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Iwan Silajew und den sowjetischen Botschafter Juli Kwizinski, um über weitere Wirtschaftshilfen zu sprechen.

Im Visier der Roten Armee Fraktion

Im selben Ausmaß wie Herrhausens Einfluss und sein öffentliches Profil zunahmen, wuchs das Risiko für sein Leben. Die RAF hatte seit Anfang der 1970er Jahre hohe Vertreter aus Politik und Wirtschaft ins Visier genommen. In den 1980er Jahre agierte die sogenannte dritte Generation der Gruppe noch „professioneller“ als die Vorgänger. Sie hinterließ kaum Spuren und zielte nun auf Manager und Spitzenbeamte aus der zweiten Reihe.

Zu den prominentesten Opfern gehörten Ernst Zimmermann, Vorstandsvorsitzender der Motoren- und Turbinen-Union (MTU), Karlheinz Beckurts, der Forschungsleiter der Siemens AG und der Diplomat Gerold von Braunmühl. Sie alle wurden von der RAF dem „militärisch-industriellen Komplex“ zugeordnet. Das galt auch für Herrhausen nach der Fusion von Daimler und MBB.

In Italien und Frankreich ereigneten sich ähnliche Anschläge gegen Spitzen des militärischen Beschaffungswesens: General René Audran wurde 1985 von der Action Directe direkt vor seinem Wohnsitz in La Celle-Saint-Cloud ermordet. 1987 fiel General Licio Giogieri in Rom den Roten Brigaden zum Opfer. Auf diese Weise nahmen die Terroristen die westliche Rüstungszusammenarbeit ins Visier – insbesondere die 1983 von US-Präsident Ronald Reagan initiierte Strategic Defense Initiative (SDI). Diese zielte auf den Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen, was von der UdSSR als Bedrohung wahrgenommen wurde.

Beckurts hatte die westdeutsche Regierung in Sachen SDI-Kooperation beraten. Zimmermanns MTU-Konzern stellte die Triebwerke für das Tornado-Kampfflugzeug und die Motoren für den Leopard-Panzer her. Die Mörder des Diplomaten Braunmühl, der ebenfalls in die SDI-Gespräche eingebunden gewesen war, hatten ein Dokument aus der Aktentasche des Opfers gestohlen. Es handelte sich um ein Aide-Memoire über eine Absprache zwischen den G7-Staaten, „sich gegenseitig von der Anwendung des Kontrollregimes“ in Sachen „Trägertechnologie“ auszunehmen. Das Schreiben wurde trotz des Propagandapotentials nie veröffentlicht, was auch wieder Fragen aufwirft.

Die RAF war schon in den 1970er Jahren von Ost-Geheimdiensten protegiert und fallweise unterstützt worden. 1981 erreichte diese Kooperation eine neue Qualität: Die Arbeitsgruppe des Ministers (AGM/S), die Spezialeinheit der DDR-Staatssicherheit, veranstaltete für die westdeutschen Terroristen einen Lehrgang.

Die RAF-Leute wurden im Schießen und Bombenbau unterwiesen. Auf dem Truppenübungsplatz Rüthnick durften sie mit sowjetischen Panzerfäusten auf einen Mercedes feuern. Ungeklärt ist, ob diese Unterweisung vor oder nach dem missglückten Panzerfaust-Attentat auf den US-General Frederick Kroesen 1981 in Heidelberg stattfand.

1985 fand sich Herrhausens Name auf einer RAF-Liste von potentiellen Zielen. Daraufhin wurde er vom Bundeskriminalamt (BKA) den am meisten gefährdetsten Personen der BRD zugerechnet und der Personenschutz verstärkt. Ab September 1988 ordnete man Herrhausen überhaupt der höchsten Gefährdungsstufe zu. Nun war jederzeit mit einem Anschlag auf sein Leben zu rechnen.

Laut dem Fahndungskonzept K-106 sollten Vorfeldaufklärung und eine stündliche Objektschutzstreife rund um den Wohnsitz allfällige Attentatsvorbereitungen rechtzeitig erkennen. Doch das Konzept wurde wegen „Personal- und Materialmangel“ nie vollumfänglich umgesetzt. So wurden die drei möglichen An- und Abfahrtswege zum Wohnhaus nur sporadisch durch verdeckte Kräfte des BKA und des hessischen Landeskriminalamts kontrolliert.

Herrhausens ständige Bewacher mussten den gepanzerten Mercedes in Eigenregie auftreiben. Es war nicht nur ein älteres Modell, sondern es hatte auch eine Schwachstelle. Herrhausen ließ in eine Tür einen nicht vorgesehenen Kurbelmechanismus einbauen. Dafür entfernte man Teile der Panzerung – genau an jener Stelle, die später von der Explosion getroffen wurde.

In Gefahr brachte sich Herrhausen aber auch dadurch, dass ihn seine Schutzkolonne oft zur selben Uhrzeit abholte und auf der gleichen Strecke ins Büro fuhr. „Die konnten richtig auf ihn warten“, meinte später der ehemalige BKA-Präsident Hans-Ludwig Zachert in Hinblick auf die lauernden Attentäter. Auf die durch die Alltagsroutine drohende Lebensgefahr aufmerksam gemacht, habe Herrhausen eine Zeit lang andere Wege gewählt, aber dann fing der „alte Schludrian wieder an und dann war er auch tot“, so ein BKA-Fahnder.

Herrhausen selbst hatte die Bedrohung fatalistisch gesehen: „Wenn sie wollen, dann kriegen sie mich ohnehin.“ In der Deutschen Bank selbst hatte er sich zuletzt immer mehr ins Abseits manövriert. Nur zwei Tage vor dem Attentat hatte der Vorstand einen radikalen Umstrukturierungsplan Herrhausens abgelehnt, der die Bank fit für das Investmentgeschäft machen sollte.

Laut dem Journalisten Andres Veiel soll Herrhausen daraufhin den baldigen Rücktritt ins Auge gefasst haben. Vielleicht hätte er sich dann in seinen Sehnsuchtsort Schwarzenberg (Vorarlberg) zurückgezogen. Herrhausen soll mit dem Gedanken gespielt haben, mit seiner aus der Region stammenden zweiten Ehefrau dort einen Gasthof zu betreiben. Doch dazu sollte es nicht kommen.

Herrhausens spätere Mörder waren seit Oktober 1989 am Werken. Mindestens zehn Personen waren an den Vorbereitungen beteiligt, wie die Ermittler nachträglich rekonstruierten. Das geschah alles andere als unauffällig. So fand der Hausmeister der Taunus-Therme einen Klingeldraht im Gebüsch.

Anderen Zeugen fielen zunächst Jogger und dann seltsame Bauarbeiter auf, die keine Schutzhelme trugen. Mit Hammer und Meißel klopften sie Straße und Gehsteig auf. Auf diese Weise wurde das Kabel verlegt, dass die Lichtschranke mit einer Batterie speiste. Anschließend wurde alles wieder mit Füllmaterial verschlossen, das der Farbe des Asphalts angepasst war. Einer der Personenschützer fragte wegen der Arbeiten nach. Aber weil in der Umgebung kürzlich eine Stahlplatte eingelassen worden war, brachte man die improvisierte Baustelle damit in Zusammenhang.

Nach dem Anschlag mussten die Behörden das Versagen des Konzepts K-106 einräumen. Die letzte Vorfeldkontrolle hatte nur eine halbe Stunde vor der Explosion stattgefunden, ohne dass den beteiligten Beamten etwas Verdächtiges auffiel. Die Personenschützer wiederum benötigten Jahre, um über das Erlebte hinwegzukommen. Chauffeur Nix machte sich Vorwürfe statt seines Chefs überlebt zu haben – hatte dieser „doch zwei Kinder, die ihn noch dringend gebraucht hätten“.

Die verwendete Bombentechnik, eine Hohlladung, war untypisch für die RAF. Nur 17 Monate vor dem Anschlag hatte sich die Gruppe offensichtlich ahnungslos bei einer italienischen Terrorgruppe nach einer „Möglichkeit zur Panzerbrechung“ erkundigt. Selbst im Bekennerschreiben zum Herrhausen-Attentat sprach die RAF in Unkenntnis der korrekten Fachtermini davon, eine „Hohlladungsmine“ verwendet zu haben.

Die Stasi-Spur

Es ist daher wahrscheinlich, dass die RAF das know-how von anderer Seite bezogen hat. Zu den Hauptverdächtigen zählt die Stasi. Drei Wochen vor dem Attentat war die Berliner Mauer gefallen. Eingefleischte Gegner der Wiedervereinigung könnten versucht haben, diese mit dem Schlag gegen den „Herrn des Geldes“ zu sabotieren. Dafür gibt es allenfalls Indizien. So gehörten zur „Expertise“ der AGM/S auch komplexe Sprengungen wie im Fall Herrhausen. In einem von 1974 stammenden Dokument heißt es:

Wird eine geballte Hohlladung mit einer leicht gewölbten Hohlladungseinlage hergestellt, so kommt bei der Detonation der Hohlladungseffekt nicht voll zur Wirkung. Die Hohlladungseinlage wird nicht zum Hohlladungsstrahl umgeformt, sondern wird bei sehr zähem Material, wie z.B. Kupfer, als ganzes Geschoss oder bei spröderem Material als Splitterbündel in der gezielten Richtung mit hoher Geschwindigkeit fortgeschleudert.“

Das reiche aus, einen PKW schwer zu beschädigen und die Insassen durch großen Explosionsdruck kampfunfähig zu machen“.

Auszüge aus Handbuch der AGM/S (Quelle: Stasi-Unterlagen-Archiv)

Ansonsten findet sich im Stasi-Unterlagen-Archiv beispielsweise ein reines Informationsschreiben vom 1. Dezember 1989, dass den Erkenntnisstand zum Herrhausen-Attentat und die eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen für die Stasi-Spitze zusammenfasste:

Das BKA Wiesbaden, Abt. Terrorismus-Bekämpfung wurde vom GBA [Generalbundesanwalt] mit der Aufklärung des Anschlages und der Veranlassung weiterer Maßnahmen beauftragt. Beim BKA wurde umgehend eine Sonderkommission (SOKO) [mit] der Bezeichnung ‚Taunus‘ gebildet. […] Weiteren aus Führungskreisen des BMI [Bundesinnenministeriums] Bonn erarbeiteten internen Angaben zufolge hätten bereits Hinweise auf einen Anschlag auf eine ‚prominente Person‘ vorgelegen. So sei von inhaftierten RAF-Mitgliedern des RAF-Kommandobereichs bereits vor längerer Zeit zu einer derartigen Aktion aufgefordert worden. Diese Forderung hätte sich aber mehr auf die Entführung einer Zielperson aus dem Bereich ‚Militär, Justiz, Polizei‘, verbunden mit der Forderung nach Freilassung von inhaftierten, bezogen.“

Noch 1991 warnte der damalige Sicherheitsbeauftragte für Sachsen-Anhalt, Klaus-Dieter Matschke, vor Stasi-Seilschaften, die „weiterhin mehr oder weniger aktiv“ seien und „über entsprechende Untergrunderfahrung“ verfügen würden. In petto hätten sie „ausgebildetes und extrem motiviertes Personal, Kommunikationskanäle, Logistik, Bewaffnung und Sprengstoff (Semtex) für generalstabsmäßig geplante, militärisch perfekt durchgeführte und verheerend wirkende Terrorakte.“

Matschke relativierte diesen Befund ein paar Jahre später als „Irrtum“. Es hätten sich keine neuen beweiskräftigen Fahndungsergebnisse diesbezüglich ergeben. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die vielrezipierte Stasi-Spur bleibt substanzlos.

Die KGB-Spur

Auch der sowjetische KGB wurde im Zusammengang mit dem Herrhausen-Attentat oftmals verdächtigt, zuletzt 2020 im Investigativbuch von Catherine Belton. Diese kam sogar zum Schluss, der damals in Dresden stationierte KGB-Offizier Wladimir Putin habe den Anschlag mit-initiiert, um die BRD zu destabilisieren. Das angebliche „RAF-Mitglied“, von dem diese Behauptung stammt, hat aber mittlerweile eingeräumt, „zu keiner Zeit“ der Gruppe angehört zu haben.

Die Spur in den Libanon

Plausibler ist die Spur zu mit der RAF verbündeten Gruppen im Nahen Osten. So starb der libanesische Präsidenten René Moawad bei der Explosion einer Hohlladungs-Bombe am 22. November 1989 – nur acht Tage vor dem Herrhausen-Attentat. 2005 sollte die Sprengmethode im Irak wiederauftauchen: Mehr als 100 US-Soldaten kamen bei Anschlägen gegen ihre gepanzerten Fahrzeuge ums Leben. In einer Analyse hielt das US-Militär fest, dass die Sprengfallen ursprünglich aus dem Libanon stammten.

Zum Zeitpunkt des Herrhausen-Attentats bestand ein regelrechtes Terror-„Joint Venture“, das die Volkbefreiungsfront für Palästina (PFLP) mit Angehörigen der Japanischen Roten Armee, westdeutschen Linksextremisten, die sich in den Nahen Osten geflüchtet hatten sowie europäischen Gruppen wie der dänischen BlekingegadeBande verband.

In dieser Erkerwohnung in Kopenhagen befand sich ein Waffendepot der Blekingegade-Banke

Im Auftrag der PFLP und koordiniert durch deren Nachrichtdienstchef Mohammed el-Fahoum verübte dieses Netzwerk 1987/88 Anschläge gegen NATO-Ziele in Barcelona, Rom, Neapel und Rota. Dahinter stand das libysche Regime von Oberst Muammar Gaddafi als Geld- und Auftragsgeber. Eine Verwicklung in das Herrhausen-Attentat wäre etwa in Form einer Gefälligkeit für die RAF denkbar, deren Mitglieder in Palästinenserlagern im Libanon immer wieder trainiert hatten.

Die transatlantische Spur

Als vierte These ins Spiel gebracht wird eine nebulöse Verschwörung von „Kalten Kriegern“ und Feinden Herrhausens in der Geschäftswelt. So erinnerte sich ein Personenschützer, dass ein Vorstandsmitglied der Deutschen Bank sich nach dem Attentat als erstes einen dreifachen Cognac gönnte: „Vielleicht auch, weil es geklappt hat“.

Diese These schwingt auch in der ARD-Serie „Herrhausen – der Herr des Geldes“ mit, die Anfang Oktober 2024 ausgestrahlt wurde. Demnach habe sich Herrhausen als Unterstützer und Kreditgeber von Gorbatschows Reformpolitik gefährliche Feinde gemacht – vom US-Geheimdienst bis hin zur Stasi. „Wo ist die RAF, wenn man sie mal braucht“, sagt einer dieser Verschwörer vieldeutig.

Belegt ist, dass der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger Herrhausen bei einer Kundenversammlung in New York im Sommer 1989 warnte, die sowjetische Reformpolitik naiv zu betrachten. Diese berge das Risiko einer Neutralisierung Deutschland oder ganz Europas.

In einem Interview 2022 erinnerte sich Kissinger nicht, „jemals eine gravierende Meinungsverschiedenheit“ mit Herrhausen gehabt zu haben: „Ich denke, wir marschierten beide in die gleiche Richtung. Das Faszinierende war, Alfred Herrhausen hatte den Ruf, ein mächtiger und aggressiver Geschäftsmann zu sein. Aber ich dachte, dass er das Zeug dazu hat, ein großer Führer zu werden.“

Ein Informant des Journalisten Ferdinand Kroh will dagegen „aus Managementkreisen der Deutschen Bank“ erfahren haben, dass die Chefetage kurz nach dem Attentat einen US-amerikanischen Besucher hatte. Dieser soll zu verstehen gegeben haben, „dass das Ereignis vom 30. November 1989 als Warnung zu verstehen sei“. Passend dazu zeigt das Plakat von „Herrhausen – der Herr des Geldes“ die Silhouette eines Überlebensgroßen, der wie Gulliver mit Stricken zu Fall gebracht wird.

In der Serie wird das Attentat letztlich von der CIA bei der PFLP und ihren RAF-Helfershelfern „bestellt“, um den als Bedrohung für US-Interessen wahrgenommenen Herrhausen loszuwerden. Dafür gibt es nicht einmal Indizien, geschweige denn Beweise.

Fazit

Die ausufernden Erklärungsversuche bewogen das RAF-Mitglied Eva Heule schon 2007 in einem Leserbrief „noch einmal klipp und klar“ festzuhalten, dass ihre Gruppe in Sachen Herrhausen und anderer Anschläge „verantwortlich“ war. Allerdings befand sich Heule 1989 schon seit drei Jahren hinter Gittern.

Der RAF-Terror war auch nach Herrhausens Tod weitergegangen: 1991 wurde der Präsident der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, in Düsseldorf mit einem Sturmgewehr erschossen. Der Manager war mit der Abwicklung der DDR-Betriebe beschäftigt gewesen. Auch sein Tod konnte – so wie alle Morde der dritten Generation – bislang nicht aufgeklärt werden. 1998 setzte die RAF einen Schlusspunkt, indem sie sich für aufgelöst erklärte.

Schon ab 1992 hatte sich eine von der Deutschen Bank getragene Alfred Herrhausen Gesellschaft (AHG) mit gesellschaftspolitischen Fragen beschäftigt. Nach Uneinigkeiten über die Finanzierung wurde die Gesellschaft 2023 geschlossen. Herrhausens Tochter Anna, seit Oktober 2016 Geschäftsführerin der AHG, legte ihr Mandat nieder und verließ die Deutsche Bank.

Vielleicht ergeben sich infolge der Festnahme des RAF-Mitglieds Daniela Klette (2024) neue Hinweise. Angesichts des Schweigegelübdes innerhalb der Gruppe ist das aber wenig aussichtsreich. Es bleiben rund 50 Haare, die sich in einem Brocken gehärteter Asphaltmasse fanden, mit der die Terroristen den Kabelkanal verschlossen hatten. „Wir bekommen die Haare nicht heraus, ohne sie zu zerstören“, so ein BKA-Fahnder. Vielleicht gebe es irgendwann einmal eine neue Technologie, um diese DNA-Spur auszuwerten.