Der CIA-Agent im Wiener Männergesangsverein

Im riesigen Fundus der letzten 2025 freigegebenen Dokumente zur Ermordung von John F. Kennedy betreffen einige wenige einen Sonderfall mit viel Bezug zu Österreich: Ausgerechnet jener Agent, der 1963 die CIA-interne Untersuchung des Mordfalls Kennedy geleitet hatte, setzte sich 1971 in Wien zur Ruhe. Er kannte die Stadt gut: Hier hatte der Weltkriegsveteran schon in den 1950er Jahren gedient. Doch Ende 1995 holte ihn seine Vergangenheit ein. In den USA hatte nach dem öffentlichen Aufschrei rund um den Verschwörungsthriller JFK (1991) der Deklassifizierungsprozess von Unterlagen im Zusammenhang mit dem Kennedy-Attentat begonnen. Als der Pensionär in Wien davon erfuhr, bekam er panische Angst und nahm umgehend Kontakt mit seinem alten Arbeitgeber auf. Denn für ihn stand viel auf dem Spiel. Aus den Kennedy Files lassen sich nun nicht nur der Name des Offiziers, sondern auch seine Bezüge zu Wien und Österreich herauslesen.

John Whitten war ein langgedienter und verdienstvoller Geheimdienstmann. Seine wichtigste Rolle spielte er kurz nach dem Attentat auf Kennedy. Zu diesem Zeitpunkt war er 43 Jahre alt und der Chef für verdeckte Operationen in Mexiko und Zentralamerika.

Nach den tödlichen Schüssen auf Kennedy am 22. November 1963 wurde Whitten beauftragt, allen Spuren des Attentäters Lee Harvey Oswald in den Unterlagen der CIA nachzugehen. Und wie sich bald herausstellte, hatte man sehr viel über Oswald gewusst – so viel, dass CIA-Direktor Richard Helms Whittens Untersuchung abblockte. Das führte mit dazu, dass die Warren Commission, die den Tod Kennedys untersuchte, 1964 zum Schluss kam, dass Oswald alleine gehandelt hatte, ohne dass man ein konkretes Motiv benennen konnte.  

John Whitten (Quelle: garyrevel.com/jfk/whitten.html)

Erst 1978 hatte Whitten die Möglichkeit, vor einem US-Kongressausschuss auszusagen, was seine Untersuchung zu Oswald ergeben hatte: Dass dieser in pro-kubanischen Zirkeln in New Orleans aktiv gewesen war und das Fair Play for Cuba Comittee unterstützt hatte – in einer Zeitspanne, wo sich der Konflikt zwischen den USA und dem von der Sowjetunion unterstützten kommunistischen Regime von Fidel Castro gefährlich hochgeschraubt hatte. Zum Zeitpunkt von Kennedys Tod lief bereits eine längere CIA-Operation zur Ermordung Castros. Und dieser Kontext war von den Verantwortlichen so lange wie möglich geheim gehalten worden.

Whitten war zum Zeitpunkt seiner Aussage, die er unter dem Pseudonym „John Sceiso“ tätigte, nicht mehr aktiv. Noch bis Ende der 1960er Jahre hatte er in Wien unter Stationschef Thomas Karamessines gedient. Als ihn dann das Hauptquartier dazu zwingen wollte, den damaligen österreichischen militärischen Nachrichtendienst, die Nachrichtengruppe (NaGrp), über eine Quelle zu informieren, verweigerte er die Ausführung. Es ging um einen österreichischen Diplomaten in Budapest, der nicht nur für die NaGrp spionierte, sondern auch für die CIA. Über letzteres sollte Whitten den Partnerdienst ins Bild setzen, was er als unehrenhaft ablehnte. Die Order wurde dann zurückgenommen.

Whitten ging 1970 in den Ruhestand und bekam die Distinguished Intelligence Medal verliehen. Im Jahr darauf ließ er sich wie bereits erwähnt in Wien nieder und lebte dort mit seiner Frau bis 1980 und dann wieder ab 1983. In dieser Zeit nahm er aktiv am kulturellen Leben teil. Insbesondere die Staatsoper und die Werke des „Walzerkönigs“ hatten es ihm angetan. So wurde Whitten Mitglied im erweiterten Vorstand der Johann Strauß-Gesellschaft und sang selbst im Chor des seit 1843 bestehenden Wiener Männergesangsverein.

Auf diese Weise sei er mit „mehreren früheren österreichischen Präsidenten“ persönlich bekannt geworden, was das Skandalpotential im Falle einer Enttarnung hochmache, warnte er die CIA-Zentrale einem Schreiben vom 14. November 1995. Und Whitten machte deutlich, dass er auf die Lebensqualität in Wien nicht verzichten wollte.

Die enge Beziehung Whittens zu Österreich erklärt sich aus seiner Dienstzeit. Seine CIA-Karriere hatte in hier in den 1950er Jahren begonnen. Er erinnerte sich später daran, „rund um 1959“ einen Nachrichtenhändler verhört und „gebrochen“ zu haben. Dieser Mann soll gestanden haben, ein Attentäter für NS-Geheimdienste gewesen sein.

1995 – viele Jahrzehnte später – als in den USA erstmals Kennedy-Dokumente freigegeben wurden, fürchtete Whitten einen Racheakt, sollte sein Name öffentlich werden. Auch die Aussicht, dass ihm Historiker auf die Spur kommen könnten, machte Whitten zu schaffen – insbesondere deren „kopfloser Drang, alles zu wissen“.

Denn wie Whitten zu bedenken gab, war er an einem hochbrisanten Geheimprojekt beteiligt gewesen, dass die Beziehungen zwischen den USA und Österreich berührte. Unter dem Decknamen Stay Behind waren seit dem frühen Kalten Krieg insgesamt 79 Waffenlager in Österreich angelegt worden, um daraus im Fall einer sowjetischen Invasion ein Widerstandnetz auszurüsten. Das war Teil einer europaweiten Anstrengung. In allen NATO-Staaten und auch in den neutralen Ländern entstanden Stay Behind-Verbände unter Federführung der CIA.

Dementsprechend wurde in Österreich ein zahlenmäßig schwacher Stammkader von vertrauenswürdigen einheimischen Stay Behind-Agenten aufgebaut, um den Kern einer Guerilla hinter feindlichen Linien zu bilden. Am wichtigsten war der 1952 zur Tarnung gegründete Österreichische Wander-, Sport- und Geselligkeitsverein (ÖWSGV) von Franz Olah, dem damaligen Vorsitzenden der Bau- und Holzarbeiter-Gewerkschaft und späteren SPÖ-Innenminister.

Sitz des ÖWSGV war ein Gemeindebau in Wien-Penzing
Auszug aus den Statuten des ÖWSGV

Ende 1955 bestand die „GRDAGGER-Organisation“ (wie die CIA den ÖWSGV nannte) aus 20 Personen, von denen man sich viel erwartete: „Wir schätzen, dass die GRDAGGER-Organisation innerhalb von sechs Monaten nachdem der Krieg ausgebrochen ist auf 250 Mann angewachsen sein wird. GRDAGGER besteht aus Angehörigen einer SPÖ-nahen Gewerkschaft mit 40.000 Mitgliedern, von denen viele als potentielle Rekruten für Widerstandsgruppen im Kriegsfall angesehen werden können.“

Aufgrund der neuen Enthüllungen zu Whitten kann erstmals festgestellt werden: Er war es, der von seinem offiziellen Arbeitsplatz in der US-Botschaft aus die enge Stay Behind-Zusammenarbeit der CIA mit Olah koordinierte (nachgefolgt von Paul Van Marx). Das ergibt sich aus einem weiteren Schreiben Whittens an die CIA vom 27. Februar 1996:

Whitten fürchtete aber auch um seine persönliche Sicherheit und sah sich etwa im Visier von Terroristen, nachdem 1981 der Wiener Verkehrsstadtrat Heinz Nittel von einem Killer der Abu Nidal-Organisation (ANO) erschossen worden war. Ins Feld führte Whitten zudem juristische Probleme, die ihm im Falle seiner Enttarnung in Österreich drohen könnten – bis hin zum Verlust der Aufenthaltsgenehmigung. Das sei ihm angesichts seines angeschlagenen Gesundheitszustand nicht zuzumuten.

Im April 1996 kam es auch zu einem persönlichen Treffen mit dem Anwalt des für die Deklassifzierungen zuständigen Assassination Records Review Board. Im selben Jahr wurde Whittens Aussage freigegeben, ohne dass sein Name öffentlich gemacht wurde. Dieser fiel erstmals nach seinem Tod in einem Altersheim in Pottsdown (Pennsylvania) im Jahr 2000. Aber erst jetzt kann Whittens Geschichte ganz erzählt werden.

PS: Ohne Bezug zu Whitten, aber ebenso interessant wegen des Wien-Bezugs ist ein Memo von 1961, das an Kennedy gerichtet war und die gängige Praxis beleuchtet, Geheimdienstmitarbeiter als diplomatisches Personal an den US-Botschaften zu tarnen (und zwar unter der Bezeichnung Controlled American Source, CAS). Demnach waren in der US-Botschaft in Wien im Jahr 1960 16 von 20 in der politischen Sektion aufgelisteten Personen in Wirklichkeit Spione, von den 31 Berichterstattern mehr als die Hälfte.

(Siehe: https://www.archives.gov/files/research/jfk/releases/2025/0318/176-10033-10145.pdf).

Die jüngsten Deklassifierungen zu Whitten im Volltext:

Mehr zum Thema Franz Olah und Stay Behind:

Strukturen für den geheimen Krieg in Österreich: Von den Netzwerken des Dr. Höttl bis zum „Sonderprojekt“ Franz Olahs, in: Lucile Dreidemy, Richard Hufschmied, Agnes Meisinger, Berthold Molden, Eugen Pfister, Katharina Prager, Elisabeth Röhrlich, Florian Wenninger und Maria Wirth (eds.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Wien 2015, 665 – 680. pdf

Gladio – myth and reality: The origins and function of stay behind in the case of post-war Austria, in: Adrian Hänni, Thomas Riegler, Przemyslaw Gasztold (eds.), Terrorism in the Cold War, Vol. 2, State Support in the West, Middle East and Latin America, London 2020, 15-41, https://www.bloomsburycollections.com/book/terrorism-in-the-cold-war-state-support-in-the-west-middle-east-and-latin-america/

„Sorry guys, no gold“, in: Österreichs geheime Dienste. Vom dritten Mann zur BVT-Affäre, Wien 2019, 157-168.

„Stay behind“ in Österreich und US-Waffenlager http://oesterreichterrorismus.blogspot.com/2015/01/stay-behind-in-osterreich-teil-1.html

http://oesterreichterrorismus.blogspot.com/2015/01/stay-behind-in-osterreich-teil-2-der.html

http://oesterreichterrorismus.blogspot.com/2015/10/sorry-guys-no-gold-us-waffenlager-in.html