„Mein Blut wird über Euch kommen“

Vor 40 Jahren entführten die Roten Brigaden den christdemokratischen Politiker Aldo Moro. Sein Tod nach 55 Tagen Gefangenschaft wurde für Italien zum Trauma und ist bis heute nicht ganz geklärt.

Der 16. März 1978 sollte ein Wendepunkt in der Geschichte der italienischen Nachkriegsdemokratie sein. Eine Vertrauensabstimmung im Parlament stand bevor. An sich nichts Besonderes in Italien. Diesmal aber konnte sich die christdemokratische Minderheitsregierung von Guildo Andreotti auf die Unterstützung der starken Kommunistischen Partei (KPI) verlassen. Das war der „historische Kompromiss“ zwischen zwei ideologisch verfeindeten Lagern. Auf diese Weise wollte man die „Regierbarkeit“ eines Landes sicherstellen, das politische und soziale Spannungen zu zerreißen drohten. Geschmiedet hatten den „historischen Kompromiss“ zwei Ausnahmepolitiker: KPI-Chef Enrico Berlinguer und der Präsident der Democrazia Cristiana (DC), Aldo Moro. Letzterer war die graue Eminenz Italiens: 1916 in Apulien geboren, hatte Moro mehrfach Ministerämter bekleidet und fünf Kabinette als Ministerpräsident angeführt. Der Pakt mit Berlinguer war so etwas wie sein Meisterstück.

Doch am Weg in die Abgeordnetenkammer an diesem Donnerstagvormittag gerät Moros Konvoi in einen heimtückischen Hinterhalt. Schauplatz ist die Via Fani im Nordwesten Roms. Hier wartet ein Kommando der linksterroristischen Roten Brigaden, getarnt in Alitalia-Pilotenuniformen. Kurz nach 9 Uhr werden die beiden Autos mit Moro und seinen fünf Begleitern durch einen provozierten Auffahrunfall zum Abbremsen gezwungen. Dann stürmen die Rotbrigadisten heran und eröffnen Dauerfeuer aus automatischen Waffen. 40 Sekunden vergehen, 97 Schüsse fallen. Moro bleibt unverletzt. Seine Begleiter haben keine Chance. Nur einer schafft es, die Waffe zu ziehen, ehe er niedergestreckt wird. Es ist einer der tödlichsten Angriffe auf einen Spitzenpolitiker in der Geschichte des modernen Terrorismus.

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Gedenktafel am Fundort der Leiche Moros in Rom (Quelle: Autor)

Die Roten Brigaden hatten Anfang der 1970er Jahre mit Entführungen von Managern in norditalienischen Industriestädten für Aufmerksamkeit gesorgt. Doch ab 1976 unternahmen sie immer brutalere Aktionen. Angehörige der Sicherheitskräfte, Staatsanwälte und Journalisten wurden ermordet. Der „Angriff auf das Herz des Staates“ sollte das brüchige System zum Einsturz bringen. Und kein anderer Politiker verkörperte das „Herz des Staates“ mehr als Moro. Noch am 17. Februar 1978 hatte der italienische Spionagechef im Libanon Alarm geschlagen: Eine „terroristische Operation von beträchtlicher Tragweite“ sei in Planung. Quelle war ein Vertreter der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“. Denn Italien hatte Anfang der 1970er Jahre einen Art Nichtangriffspakt mit den palästinensischen Terrorgruppen geschlossen. Das Geheimabkommen ging auf Moro selbst zurück, der damals Außenminister gewesen war. Doch die Warnung war viel zu ungenau und konnte das Drama nicht mehr verhindern.

Moro wird von seinen Kidnappern in eine anonyme Hochhauswohnung am anderen Ende Roms verfrachtet. Dort verbirgt eine falsche Bücherwand einen schmalen Raum, der mit dem fünfzackigen Stern, dem Symbol der Roten Brigaden, drapiert ist. 55 Tage ist Moro hier eingesperrt, quasi lebendig begraben. Für Italien, das in den 1970er Jahren blutigen Terrorismus fast „gewöhnt“ ist, bedeutet die Moro-Entführung einen Schock. Es handele sich um einen Anschlag auf das Gefüge der Republik. Das ist Konsens aller Parteien. Die Regierung Andreotti wird mit großer Mehrheit bestätigt und man kommt überein, hart zu bleiben. Jegliche Verhandlungen mit den Terroristen werden abgelehnt. Vor allem die KPI macht sich dafür stark. Nicht umsonst empfindet sie die Entführung als Schlag gegen den „historischen Kompromiss“. Anlässlich der Beerdigung der fünf Leibwächter demonstrieren christdemokratische neben kommunistischen Parteigängern. Das hat es seit Ende des 2. Weltkriegs nicht mehr gegeben.

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Die Entführer fertigten mehrere Polaroids von Aldo Moro an (Quelle: Wikimedia Commons)

Von Moro gibt es lange kein Lebenszeichen. Dann lassen ihn seine Entführer „sprechen“: Am 29. März 1978 erreicht die erste Tranche einer ganzen Serie von Moro verfasster Briefe die Öffentlichkeit. Insgesamt 97mal schreibt der Politiker an Familienangehörige, politische Weggefährten, Journalisten und den Jugendfreund Papst Paul VI. Manche dieser Schreiben behalten die Rotbrigadisten zurück, die meisten stellen sie zu. Der Tenor ist eindeutig. Moro kämpft er um sein Leben und fordert Verhandlungen:

„Wie kann es möglich sein, dass Ihr alle damit einverstanden seid, meinen Tod zu wollen? Im Namen einer angenommenen Staatsräson, die Euch jemand feindselig empfiehlt? Als ob dies alle Probleme des Landes lösen würde. […] Wenn Ihr nicht handelt, dann wird eines der entsetzlichsten Kapitel der italienischen Geschichte geschrieben werden. Mein Blut wird über Euch kommen.“

Längst sind Machenschaften am Werk, die auch vier Jahrzehnte nach der Entführung nicht ganz aufgeklärt sind. Zahllose Verschwörungstheorien kursieren. Spekuliert wird über eine verborgene Rolle der CIA, des KGB, der Mafia und der Freimaurerloge P2. Tatsache ist, dass sich eine Vielzahl von Akteuren in das ohnehin chaotische Krisenmanagement mischen. Aus den USA wird ein eigener Antiterrorberater ins römische Innenministerium beordert. Steve Pieczenik bekennt später, dass es nie seine Mission gewesen sei, Moro zu retten. Es sei vielmehr darum gegangen,

„Italien zu stabilisieren, den Kollaps der Christdemokratischen Partei zu verhindern und dafür Sorge zu tragen, dass die Kommunisten durch die Entführung nicht die Kontrolle der Regierung gewinnen würden“.

Sprich: Ein toter Moro war politisch nützlicher, als ein lebendiger.

Um die Öffentlichkeit auf einen tragischen Ausgang vorzubereiten, wurde ein Kommuniqué der Roten Brigaden gefälscht und am 18. April 1978 veröffentlicht. Darin hieß es, Moro sei hingerichtet und die Leiche im Duchessa-See in den Abruzzen versenkt worden. Daraufhin wird eine Heerschar Polizisten für eine absurde Suchaktion aufgeboten. Denn der schwer zugängliche See ist seit Monaten zugefroren. Obwohl sich keine Spuren finden, wird die Eisdecke aufgesprengt und Taucher suchen vergeblich nach Moro. Die Roten Brigaden wiederum werten die Falschmeldung als Signal der Kompromisslosigkeit.

Erst am 24. April 1978 stellen sie selbst eine konkrete Forderung: Die Freilassung von 13 inhaftierten Gesinnungsgenossen. Und tatsächlich kommt Bewegung in die festgefahrenen Fronten. Die kleine sozialistische Partei schwenkt aus und macht Vorschläge für einen „Gefangenenaustausch“. Auch innerhalb der DC mehren sich die Stimmen dafür. Aber als der Papst die „Männer der Roten Brigaden“ „auf Knien“ anfleht, Moro freizugeben, folgt der Nachsatz: „Ohne Bedingungen“. Ob dies auf Druck geschah, lässt sich nicht belegen.

Am 9. Mai 1978 trifft sich die DC-Leitung zu einer entscheidenden Sitzung. Gut möglich, dass man die Weichen für eine „humanitäre Lösung“ gestellt hätte. Doch mitten in die Versammlungseröffnung platzt die Nachricht, dass Moro tot aufgefunden worden sei. Die Roten Brigaden hatte ihre Geisel mit einem Feuerstoß aus einer Maschinenpistole ermordet. Anschließend wurde die Leiche im Kofferraum eines roten Renault mitten im Zentrum von Rom zurückgelassen – auf halben Weg zwischen den Parteizentralen von Christdemokraten und Kommunisten.

Keine 48 Stunden vor seinem Tod hatte Moro noch einen letzten Brief an seine Frau Eleonora verfasst:

„Sei stark, meine Liebste, in dieser absurden und unbegreiflichen Schicksalsprüfung.“

Den Staatsakt im Petersdom zelebriert der tief erschütterte Papst ohne Sarg und Leichnam. Moro hatte verfügt, dass „kein Vertreter des Staates oder der Partei“ an seinem Begräbnis teilnehmen dürfe, lediglich die Menschen, die ihn „wirklich geliebt“ hatten. Mit ihm wird auch der „historische Kompromiss“ zu Grabe getragen. Erst eine massive Korruptionscausa Anfang der 1990er Jahre führte zur Implosion des seit 1948 bestandenen DC-Machtsystems. Die Roten Brigaden waren zu diesem Zeitpunkt bereits verschwunden: Sie hatten noch bis 1988 weitergemordet, aber immer weniger Rückhalt gefunden. Ob die Republik das „Opfer“ Moros letztlich notwendig hatte, wird immer mehr bezweifelt.

HINWEIS: Gekürzte Fassung ist am 18. März 2018 in der „Presse“ erschienen https://diepresse.com/home/premium/5390756/55-Tage-Martyrium_Mein-Blut-wird-ueber-euch-kommen

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