Zahlreiche Wiener Adressen sind mit der Geschichte des größten Doppelspions des Kalten Krieges verbunden: Kim Philby. Hier in Wien begann 1933/34 seine politische Sozialisierung. Er fand Anschluss an kommunistische Netzwerke und kurze später an den sowjetischen Geheimdienst. Welche Wiener Orte sind mit Philbys Aufenthalt verbunden?
Die Spurensuche beginnt in Alsergrund, genauer gesagt in der Latschkagasse Nr. 9. Dort war die Wohnung von Alice „Litzi“ Friedmann, einer kommunistischen Untergrundaktivistin. 1933 stand ein neuer Untermieter vor ihrer Tür: Der 21jährige Engländer Harold Adrian Russell Philby, von allen nur „Kim“ genannt.

Der Cambridge-Student wollte seine Deutschkenntnisse verbessern. Nach Wien hatte es ihn auch verschlagen, weil er einen Beitrag leisten wollte: Die finale Konfrontation zwischen der Linken und dem austrofaschistischen Regime von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß lag in der Luft.

Als Philby in Wien ankam, ging er als erstes in die Elisabethstraße Nr. 24 im 1. Bezirk. Dort befand sich im dritten Stock befand sich dort das Büro des Österreichischen Hilfskomitees für deutsche Flüchtlinge, das von Georg Knepler geleitet wurde und NS-Gegner unterstützte, die sich nach der Machtergreifung 1933 nach Österreich geflüchtet hatten.

Knepler, ein Wegbegleiter von Karl Kraus und überzeugter Kommunist, gab Philby einen Tipp, wo er eine vertrauenswürdige Genossin und Quartiergeberin finden würde – in der bereits erwähnten Latschkagasse.
Die 23jährige Litzi war eine leidenschaftlich politische Frau, Mitglied der KPÖ und in Kontakt mit der Komintern. Zwischen der erfahrenen Aktivistin und dem noch naiven Upperclass-Sprössling funkte es sofort:
„Er war zwei Jahre jünger als ich, und ich war schon von meinem ersten Mann geschieden und Mitglied der Partei. Er kam aus Cambridge, hatte gerade sein Studium dort abgeschlossen, war ein sehr gut aussehender Mann, benahm sich gentlemanlike und war dazu Marxist, eine seltene Erscheinung. Er stotterte, manchmal mehr und manchmal weniger, und wie viele Menschen mit einem Handikap war er sehr charmant. Wir haben uns schnell ineinander verliebt.“
Einmal wurde die Schriftstellerin Hilde Spiel von einem Freund in die Wohnung in der Latschkagasse mitgenommen. Einen Abend lang sang die Runde von Gleichgesinnten die „verbotenen Kampflieder von Brecht und Eisler“ – „irgendwann einmal kam aus einem Zimmer ein schlanker junger Engländer hervor“, der als Litzis Untermieter vorgestellt wurde: „Er hieß Kim Philby“.

Die unbeschwerte Zeit war rasch vorüber. Litzi und Philby durchlebten die Februarkämpfe vom 12. bis zum 15. Februar 1934 und wurden Zeugen der Niederlage des sozialdemokratischen Schutzbundes. Um Litzi vor der Repression zu schützen, heiratete Philby sie am 24. Februar 1934 im Wiener Rathaus. Anschließend reiste das Paar nach London, wo Philby wahrscheinlich bereits im Mai oder Juni 1934 vom sowjetischen Geheimdienst rekrutiert wurde.
Rückblickend betrachtet haben die Erfahrungen aus der Wiener Zeit entscheidenden Einfluss auf Philbys späteren Lebensweg ausgeübt. Das lässt sich neben der Latschkagasse auch an anderen Orten in Wien nachvollziehen.
Zunächst einmal war Philby 1933 nicht das erste Mal in Wien. Offenbar als Tourist auf der Durchreise wohnte er Ende August 1930 für wenige Tage in der Pension Schulhof (heute Pension Mozart), Theobaldgasse 15 in Mariahilf und reiste dann nach München weiter.

Ein- oder zwei Stunden täglich verbrachte Philby oft im heute nicht mehr bestehenden Café Herrenhof, Herrengasse 10. Denn dort gab es Ausgaben der Times, dem Daily Telegraph und Le Temps zusätzlich zu den österreichischen und Schweizer Tageszeitungen. Die Lektüre betraf oft das Vordringen des Faschismus in Europa und der Schwall an Information dazu entsetzte Philby.

Das Herrenhof bestand mit Unterbrechungen zwischen 1914 und 2006. Es ist nicht nur den zeitweiligen Gast Philby mit der Spionagegeschichte verbunden. Auch die gebürtige Wiener Schauspielerin und spätere Sowjetagentin Hede Massing verkehrte gegen Ende der 1910er Jahre im Herrenhof und lernte dort ihren ersten Ehemann, den kommunistischen Funktionär und Journalisten Gerhart Eisler, kennen.
In ihren Memoiren schreibt Massing: „Ich hatte mir das Café Herrenhof sozusagen als mein ‚Hauptquartier‘ gewählt. Nachkurzer Zeit gehörte ich zu einem ‚Stammtisch‘ und konnte auf Kredit bestellen, was für meine finanzielle Lage von großer Wichtigkeit war. Natürlich hatte es noch eine viel wichtigere Bedeutung; es gab einem Status, man war nicht nur ‚jemand’, man hatte sogar das Vertrauen der Kellner im Herrenhof, die im allgemeinen vorsichtige Menschen waren.“ Nach einem Aufenthalt in Berlin wurde Massing 1928 rekrutiert und war dann in den USA als Agentenwerberin und Kurierin tätig.
Ebenfalls schon lange verschwunden ist das Café Louvre an der Ecke Renngasse 9/Wipplingerstraße 27. Hier waren viele internationale Korrespondenten anzutreffen, wie zum Beispiel Eric Gedye. Dieser war ab 1925 in Wien zuerst für die Times, dann als freischaffender Journalist tätig – zu einem Zeitpunkt, als er sich in einer unglücklichen Ehe mit einer deutschen Staatsbürgerin gefangen fühlte.

Insgeheim war Gedye eine Quelle des MI6-Stationschefs Thomas Kendrick, mit dem er im 1. Weltkrieg beim militärischen Nachrichtendienst gedient hatte.

Gedye war auch mit Philby bekannt. Der Journalist erkannte sofort, dass er es nicht mit einem „gewöhlichen Salonsozialisten“ zu tun hatte und sagte zu seinem österreichischen Assistenten: „Ich werde ihn [Philby] im Auge behalten.“
Gedye wohnte in der Habsburgergasse Nr. 10 im 1 Bezirk. Während oder kurz nach den Februarkämpfen tauchte Philby vor Gedyes Tür auf. Er bat um Wechselkleidung für verletzte Schutzbündler, die sich in der Kanalisation versteckten. Gedye öffnete seinen Kleiderschrank und Philby nahm sich mehrere Anzüge heraus. Der Journalist erwähnte die Episode später in seinen Memoiren Fallen Bastions (1942), ohne Philby beim Namen zu nennen.

Im Café Louvre traf Phily auch den 1908 in Wien geborenen Sozialisten Edward Spiro, der später emigrierte und eine Karriere im britischen Militärnachrichtendienst machte. Unter dem Pseudonym „E. H. Cookridge“ schrieb Spiro 1968 die erste Biografie Philbys. Darin bekundet er seinen Respekt für den jungen Engländer, weil er einer Untergrundbewegung in einem kleinen Land half, das eigentlich keine Rolle für ihn spielte. Allerdings kamen Spiro Zweifel, als Philby als kommunistischer Kontaktmann auftrat und sagte, dass er so viel Finanzmittel auftreiben könne, wie gebraucht würden. Diese Mittel hätten nur von sowjetischer Seite kommen können.
Ein weiterer Schauplatz, der mit Philby verbunden ist, liegt in der Frankgasse Nr. 1, Alsergrund. In dem dortigen Wohnhaus hatte Adolf Loos zwei Wohnungen gestaltet. Jene auf Tür 10 hatte Loos 1907 für den Industriellen Friedrich Boskovits und seine Frau Charlotte gestaltet. Nach deren Auszug wurden die Räumlichkeiten vom Loos-Schüler Felix Augenfeld für die neue Bewohnerin adaptiert. Es handelte sich um die US-Amerikanerin Muriel Gardiner, die 1926 nach Wien gekommen, um sich von Sigmund Freud analysieren zu lassen. Sie nahm dann eine Lehranalyse auf, um selbst Psychoanalytikerin zu werden und begann 1932 ein Medizinstudium an der Universität Wien.


Gardiner, die von allen „Mary“ genannt wurde, war eine überzeugte Sozialistin und fasziniert von den Errungenschaften des „Roten Wien“. Sie unterstützte aber auch den kommunistischen Untergrund und sollte noch bis zu ihrer Abreise 1939 zahlreichen Verfolgten mit Geld, Bürgschaften und falschen Pässen zur Flucht verhelfen.

Anfang 1934 gab Gardiner einem ihr unbekannten Mann telefonisch einen Termin. Dieser war von einer Gardiner vertrauten Person an sie verweisen worden. Eines Sonntagsmorgens kam der Besucher pünktlich vorbei. Es war Philby. Gardiner erinnerte sich später an einen „extrem gutaussehenden, schwarzhaarigen Mann, wahrscheinlich jünger als ich, in Wanderkleidung und Stiefeln und einen Rucksack auf den Schultern“. Er habe „makelloses Englisch“ gesprochen und faszinierte sie mit Intelligenz und Charme. Die beiden diskutierten den ganzen Nachmittag über Politik, Geschichte Soziologie und Philosophie.
Erst als er dann zum Gehen aufstand, kam Philby zur eigentlichen Sache: Er fragte Gardiner, ob sie bereit wäre, Untergrundarbeit zu leisten. Konkret ging es darum, einen Umschlag mit Geld an einer Straßenbahnhaltestelle um 14 Uhr des Folgetags „einem Genossen“ auszuhändigen, dessen Erscheinungsbild Philby genau beschrieb. Dann ging er und sagte zum Abschied ein „freundliches Auf Wiedersehen“.
Kaum war Philby weg, war sich Gardiner der Sache nicht mehr so sicher. Sie schaute in das Kuvert hinein. Es enthielt mehrere Tausend österreichische Schilling und kommunistische Propagandaliteratur. Sie fühlte sich ausgenutzt und ärgerte sich, dem Charme eines Mannes verfallen zu sein, den sie kaum kannte. Gleichwohl tat Gardiner wie geheißen und übergab den in eine Zeitung gesteckten Brief. Von Philby hörte sie nie wieder. Dreißig Jahre später sollte sie die eine Fotografie von Philby als junger Mann sehen und erkannte in ihm jenen vertrauenerweckenden Gast wieder.
Philbys Biografen Patrick Seale und Maureen McConville sind sich sicher, dass Philby die Gemeindebauten des „Roten Wien“ besucht und bewundert haben muss. Der mit rund 1.050 Metern weltweit längste zusammenhängende Wohnbau, der Karl-Marx-Hof (Heiligenstädter Straße 82-92), war zwischen 1927 und 1930 errichtet worden und bot 15.000 Mieterinnen und Mietern Platz.
Philby lernte aber auch bitterste Armut in den Elendsquartieren kennen. Im Winter 1933/34 schaute er in Häusern vorbei, die nur ein einziges Fenster hatten, mit Schnee auf den Scheiben. Zwei alte Leute drängten sich vor dem eisernen Ofen zusammen. Er hatte ihnen nur ein Paar Socken anzubieten, aber sie waren höchst dankbar dafür.
Nach den Februarkämpfen, die Philby vor allem in Heiligenstadt mitverfolgt hatte, soll er insgesamt zehn Tage lang mitgeholfen haben, medizinisches Material und Essen für die im Untergrund festsitzenden Schutzbündler zu besorgen. Die Hilfsgüter bekam er unter anderem in der Singerstraße 16 im 1. Bezirk. Dort befand sich die Zentrale des American Friends Service Commitee (AFSC), einer Quäkermission unter Leitung der US-Amerikanerin Emma Cadbury. Philby kam mehrmals bei Cadbury im Büro vorbei und soll dort Bekannte aus seiner Zeit in Cambridge getroffen.

Den Abschluss von Philbys Wiener Zeit bildete die Heirat mit Litzi am 24. Februar 1934 um 10.30 Uhr im Trauungszimmer im Wiener Rathaus. Es soll eine ruhige, aber hastige Zeremonie gewesen sein, erinnerte sich Litzi später:
„Die Polizei war dabei, dabei Jagd auf aktive Kommunisten zu machen und ich fand heraus, dass sie hinter mir her waren. Ein Ausweg, wie ich der Verhaftung entgehen konnte, war, Kim zu heiraten, einen britischen Pass zu bekommen und das Land zu verlassen. Das war es, was ich tat. Ich würde es eigentlich nicht von einer Zweckehe sprechen. Ich denke, teilweise war es das und zum Teil aus Liebe.“
Ein Hochzeitsgast stach im Nachhinein hervor: Teddy Kollek, langjähriger Bürgermeister von Jerusalem, nahm als Freund von Litzis Familie teil. Kollek arbeitete danach zwischen 1942 und 1945 selbst für die Geheimdienste der Alliierten. Als er später die CIA besuchte und mitbekam, dass sich Philby seit 1949 als MI6-Verbindungsoffizier in Washington war, soll er seinen Freund, den Leiter der CIA-Gegenspionage, James Angleton, gewarnt haben: „Was macht denn der Kommunist hier?“ Aber der nahm den Hinweis nicht ernst.
Am 18. April 1934 unterschrieb Philby noch einen Meldezettel als Unterpartei in der Grinzingerstraße Nr. 39. Seine Gattin sei „sep.[arat] gemeldet“. Die zweite Unterkunft wurde nur kurz genutzt. Am 26. April 1934 war Philby laut Meldezettel „ausgezogen“, und zwar nach „England“.
Wie sich die Geschichte ab diesem Zeitpunkt weiterentwickelte und welche wichtige Rolle dabei ein kleines Netzwerk von österreichischen Emigrantinnen und Emigranten spielte, das lässt sich in „Der Wiener Spionagezirkel. Kim Philby, österreichische Emigranten und der sowjetische Geheimdienst“ (2024) nachlesen.
LINK: https://mediashop.at/buecher/der-wiener-spionagezirkel/