Ein ganzes Panorama der „geheimen Geschichte“ des 20. Jahrhunderts in Deutschland entfaltet der 2016 erschiene Sammelband „Spione und Nachrichtenhändler“. Vereint werden zehn Lebensläufe „nicht nur von Spionen nach klassischer Vorstellung, sondern auch von freien Nachrichtenhändlern, Propagandafachleuten und Ministerialbeamten in Diensten geheimer Politik“. (7) Die Schwerpunkte liegen dabei auf den Jahren 1939/45 bis 1989, wobei es der biografische Zugang ermöglicht, „der Geschichte ins Gesicht [zu] sehen.“
Nach Meinung der Herausgeber Helmut Müller-Enbergs und Armin Wagner erscheint das Buch in einer „Sattelzeit“ der Geheidienstforschung in Deutschland. Derzeit seien auf vielen Ebenen Öffnungs-Bestrebungen im Gange,[1] die eine „Initialzündung“ dieses Forschungsfelds erwarten lassen. (30) Hierzu leistet das Buch „Spione und Nachrichtenhändler“ einen gewichtigen Beitrag: einerseits durch Aufarbeitung neuer Primärquellen aus US-amerikanischen und bundesdeutschen Archiven, andererseits durch eine gründliche De-Mystifizierung der nachrichtendienstlichen „Schattenwelt“. Deutlich werden die Unzahl an Motiven für Spionage, der mitunter dysfunktionale Konkurrenzkampf zwischen bürokratischen Apparaten, die bruchlose Kontinuität von Karrieren und der Einfluss von Kameradennetzwerken.
Hermann Baun
Als erster eingeführt wird Hermann Baun (1897-1951, dargestellt von Magnus Pahl), Osteuropaexperte bei der Abwehr[2], der sich nach 1945 praktisch ebenbürtig mit dem Leiter der Generalstabs-Abteilung Fremde Heere Ost (FHO), Reinhard Gehlen, in US-amerikanische Dienste begab. Obwohl Baun in seinem neuen Aufgabenbereich, der strategischen Aufklärung, gewinnbringend für die US-Dienste arbeitete, geriet er gegenüber Gehlen ins Hintertreffen. Letzter avancierte 1946 an die Spitze der Organisation Gehlen (ORG Gehlen) und stand zwischen 1956 und 1968, dem daraus hervorgegangenen Bundesnachrichtendienst (BND) als erster Präsident vor. (38-77)
Josef Adolf Urban
Selbst in dem illustren Personenkreis, der in „Spione und Nachrichtenhändler“ proträtiert wird, nimmt Josef Adolf Urban (1897-1973, recherchiert von Matthias Ritzi und Erich Schmidt-Eenboom) eine Sonderstellung ein: Der ehemalige Mitarbeiter im Sicherheitsdienst-Ausland befand sich im Sold von insgesamt zehn staatlichen Nachrichtendiensten. Denn Urban war ein Nachrichtenhändler par excellence: Er baute eine Gruppe von Beschaffern auf, die im besetzten Nachkriegs-Österreich den Papierabfall sowjetischer Dienststellen nach relevanten Beutedokumenten durchsuchte. Der Wert des Materials war schon damals heftig umstritten, was zu „Abschaltungen“ und zum Weiterreichen Urbans führte. (78-108)
Heinrich von zur Mühlen
Der Historiker, „Volkstum“-Experte und NS-Geheimdienstler Heinrich von zu Mühlen (1908-1994, dargestellt von Enrico Heitzer) spielte eine wichtige Rolle als „Informationsleiter“ bei der 1948 gegründeten Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Dabei handelte es sich um eine der „schillerndsten Gruppierungen des frühen deutsch-deutschen Kalten Krieges“. (109) Mühlen, den seit jungen Jahren ein „kompromissloser Antibolschewismus“ geprägt hatte (136), war auf allen Feldern der Spionage und Subversion gegen die DDR tätig: „Er führte Agenten, die Militärobjekte, -transporte und Truppenbewegungen überwachten, befragte DDR-Flüchtlinge und Überläufer, schickte aber auch Flüchtlinge mit nachrichtendienstlichen Aufträgen der KgU zurück in die DDR.“ (126)
Maurice Picard
Das einzige nicht-deutsche Beispiel, das in „Spione und Nachrichtenhändler“ behandelt wird, betrifft Maurice Picard (1907-1979, dargestellt von Michael Mueller). Dieser hatte während des 2. Weltkriegs sowohl zum französischen Widerstand als auch zur Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Beziehungen unterhalten. Nach 1945 macht er Karriere – unter anderem als Präfekt des elsässischen Departements Haut-Rhin. 1968 kam es zur Verhaftung und Verurteilung Picards wegen Mehrfach-Spionage. Der Fall steht beispielhaft für die „Verstrickungen und Verirrungen, in die sich viele Menschen in undurchsichtigen und schwierigen Zeiten begaben“. (171) Letztendlich habe Picard wie so oft im geheimdienstlichen Ränkespiel „niemanden wirklich genutzt und vor allem sich selbst geschadet. (172)
Martin Riedmayr
Der Werdegang von Martin Riedmayr (1896-1989, skizziert von Susanne Meinl und Marcus Schreiner-Bozic) reichte vom Engagement im Freikorps Epp und im Bund Oberland,[3] über eine Polizeikarriere in der Weimarer Republik, Mitläufertum während der NS-Zeit bis hin zur Tätigkeit als „Sonderverbindung“ (Informant) des BND. 1954 sollte Riedmayr, den zeitlebens antibolschewistische Kameradennetzwerke unterstützten, schließlich Präsident des Bayrischen Landesamts für Verfassungsschutz (BayLfV) werden – eine Funktion, die er sechs Jahre ausfüllte. (175-207)
Ewart von Dellinghausen
Eine „graue Eminenz“ schlechthin war Ewert von Dellinghausen (1909-1996, porträtiert von Stefan Creuzberger). Während der 1950er und in den frühen 1960er Jahren war er innerhalb des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen (BMG) für die antikommunistische Abwehrarbeit zuständig, insbesondere für „psychologische Kriegsführung“. Der Baltendeutsche betrachtete den „Kommunismus als Grundübel“ und pflegte enge Kontakte zum BND sowie zum Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). (208-228) Dellinghausen war auch der Ideengeber für den „Apparat Booch“ innerhalb des BMG: Darin wurden systematisch Personen erfasst, die in Verdacht standen, „mit dem Osten zu sympathisieren oder aber linken, deutschlandpolitisch neutralistischen bzw. pazifistischen Kreisen in der Bundesrepublik nahezustehen“. Bis Ende der 1960er Jahre wurden so über rund 20.000 Personen und Institutionen erfasst. (222)
Kurt Behnke
1964 erhängte sich der Präsident des Bundesdisziplinargerichts Kurt Behnke (1899-1964, dargestellt von Helmut Müller-Enberg und Erich Schmidt-Eenboom) in seiner West-Berliner Wohnung. Dem Selbstmord vorangegangen war eine heftige öffentliche Kontroverse um moralisches Fehlverhalten. Darüber hinaus stand Behnke aufgrund der Angaben eines V-Mannes seit längerem unter Spionage-Verdacht. BND-Präsident Gehlen hatte ab Mitte der 1950er Jahre selbst zweitweise unter dem Decknamen „Dr. Schneider“ die operative Leitung der Ermittlungen inne. Aber auch Recherchen der Central Intelligence Agency (CIA) und der Generalbundesanwaltschaft ergaben „keinen Beweis für eine nachrichtendienstliche Tätigkeit“. (244) Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse war Behnke zwar kein Agent des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), „doch saß die HV A[4] über lange Jahre mit an seinem Schreibtisch, wenn nicht an seinem Bett“. (245)
Hans Joachim Bamler
Mit Hans Joachim Bamler (1925-2015, porträtiert von Helmuth Müller-Enbergs) wird der erste Resident des MfS in Frankreich. Bamler war der Führungsoffizier des Ehepaars Peter und Renee Kranick, das zunächst erfolgreich in das NATO-Hauptquartier in Paris eingeschleust worden war – als sich dort noch der Sitz des westlichen Bündnisses befand. (250-271) Nach Meinung eines Angehörigen der französischen Spionageabwehr war es nicht irgendein Vorgang: „Ihre Geschichte ist eine der bedeutendsten unserer Zeit. Technisch gesehen ist sie ein Lehrstück.“ (250) 1966 forcierte Präsident Charles de Gaulle den Abzug seines Landes aus den NATO-Gremien, woraufhin die Dienststelle nach Brüssel und Mons verlegt wurde. Die Mitglieder der MfS-Residentur wurden 1967 verhaftet, nachdem das BfV den Funkcode der HV A geknackt hatte und die französischen Partnerdienste entsprechend instruiert hatte. (261) Während die Beteiligten teilweise lange Haftstrafen absaßen, war der Verlust der Residentur für das MfS von geringer Bedeutung: „Die operativen Spesen und vor allem die menschlichen Kosten hätte sich die HV A sparen können.“ (265)
Joachim Krase
Ein Beispiel für erfolgreiche Spionagetätigkeit des MfS stellt dagegen die Tatsache dar, dass der langjährige stellvertretende Chef des Militärischen Abschirmdienst (MAD), Joachim Krase (1925-1988, dargestellt von Helmuth R. Hammreich), nie enttarnt wurde. Von 1969 bis Mitte der 1980er Jahre hatte der Selbstanbieter umfangreiche Informationen aus dem „Herzen“ des westdeutschen Militärgeheimdiensts geliefert. Als Motiv dürfte insbesondere berufliche Unzufriedenheit eine Rolle gespielt haben. (275) Der Verrat des unauffälligen „grauen Oberst“, der 1985 pensioniert wurde und kurz vor dem Mauerfall starb, „kann als einer der größten operativen Erfolge des ostdeutschen Nachrichtendienste gelten“. (296)
Hildegard Zickmann
Den wohl ungewöhnlichsten Fall des Samples stellt Hildegard Zickmann (1925-2010, recherchiert von Armin Wagner) dar: Die nach DDR-Maßstäben gute sozialistische Staatsbürgerin und Handelskauffrau war für die Lebensmittel-Belieferung sowjetischer Streitkräfte in Dresden zuständig. Ins Spionagefach rutschte sie wegen ihres Sohnes, der 1977 in die Bundesrepublik ausgereist war, aber auch dort nicht hatte Fuß fassen können. Auf seinen Vorschlag und um ihn finanziell unterstützten zu können, leitete Zickmann zwischen 1982 und 1986/87 Informationen über das sowjetische Militär an das US Army Intelligence and Security Command (INSCOM)[5] weiter. 1986 kam das MfS infolge einer Postkontrolle auf ihre Spur und investierte beträchtliche Ressourcen in die Aufdeckung. Rein rechnerisch wurde mehr als jeder 17. DDR-Bürger per Schriftvergleich abgeprüft. Der so vorangetriebene Operationsvorgang „Antenne“ führte schließlich am 27. Oktober 1987 zur Verhaftung Zickmanns. Nach etwas mehr als zwei Jahren Haft kam sie 1989 frei. (302-329) Im Abschlussbericht des MfS hatte es geheißen: „Es wurde deutlich, dass die ZICKMANN zwar keine feindliche Einstellung zur Spionage trieb, aber ihr Handeln sie letztendlich als Feind auswies.“ (323)
Zusammengefasst offeriert „Spione und Nachrichtenhändler“ viel Neues zu wenig bekannten Akteuren der zweiten Reihe und zum grundsätzlich ähnlichen Funktionieren von Geheimdiensten in unterschiedlichen Systemen. Deutlich wird auch, dass hierbei der menschliche Faktor eine zentrale Rolle spielt. Auch wenn die Vielzahl an Daten und Akronymen den Lesefluss mitunter behindert, dürfte das Buch bald zur Standardliteratur der Intelligence Studies gehören.
Anmerkungen
[1] Während Primärquellen zu nachrichtendienstlichen Aktivitäten noch vor kurzem generell unter Verschluss gehalten wurden, eröffnen sich schrittweise neue Anknüpfungspunkte und Einsichten: Ausgehend von einer Liberalisierung des US-amerikanischen Archivwesen ab 1998 im Zuge des Nazi War Crimes Disclosure Acts, der die CIA zur Offenlegung von Aktenbeständen zwang, sind ähnliche Öffnungsbestrebungen auch auf deutscher Seite voll im Gange: Das BfV legte 2015 eine Studie zur Wiederbeschäftigung von NS-Personal vor. Der BND wiederum richtete 2010 eine Forschungs- und Arbeitsgruppe „Geschichte des BND“ ein. Seit 2011 untersucht eine Unabhängige Historikerkommission (UHK) darüber hinaus die Historie der BND-Vorläuferorganisationen, der Organisation Gehlen – sowie zusätzlich das Personal- und Wirkungsprofil von 1945 bis 1968 und den Umgangs mit dieser Vergangenheit. Seit Herbst 2016 sind erste Ergebnisse veröffentlicht worden. (29 f.)
[2] Seit 1920 die verbreitete Bezeichnung für den militärischen Nachrichtendienst in Reichswehr und Wehrmacht.
[3] Das Freikorps Epp war ein militärischer Zeitfreiwilligenverband in der frühen Weimarer Republik. Auch der Bund Oberland war ein paramilitärischer Verband, der 1921 in München aus dem ehemaligen Freikorps Oberland hervorgegangen war.
[4] Die Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) war innerhalb des MfS für die politische, Militär-, Wirtschafts- und Technologiespionage im Ausland zuständig.
[5] Es handelt sich um das 1977 aufgestellte nachrichtendienstliche und Sicherheits-Hauptkommando der US Army.
HINWEIS: Eine gekürzte Version dieser Rezension ist auf sehepunke.de erschienen