Paris, am Abend des 12. Februar 1894: Der 21jährige Emilie Henry betritt das Cafe Terminus in der Nähe des Bahnhofs St. Saint-Lazare. Er setzt sich an einem Tisch und bestellt zwei Bier und eine Zigarre. Gegen 21.01 Uhr als die Kapelle für die Gäste gerade das fünfte Stück spielt, steht Henry plötzlich auf und wirft eine Bombe in die Masse von rund 350 Menschen. Bilanz: Ein Toter, 20 Verletzte. Damit war Henry unzufrieden. Er hatte gehofft, mindestens 15 Menschen zu töten und mehr als doppelt so viele zu verwunden. Und er sprach den berühmt gewordenen Satz: „Es gibt keine Unschuldigen.“ So wie auch heute noch der sogenannte Islamische Staat seine Verbrechen zu rechtfertigen versucht.
Terrorismus ist alles andere als ein neues Phänomen, sondern weist eine lange Vorgeschichte auf. Aus der Betrachtung dieser Vergangenheit lassen sich Rückschlüsse für das Heute ziehen.
Schauplatzwechsel: New York, Wall Street, 16. September 1920 – um genau 12.01 Uhr explodiert ein mit 50 kg Dynamit beladener Pferdewagen gegenüber dem Hauptsitz der Bank J. P. Morgan. 40 Menschen sterben, über 300 werden verletzt. Diese erste Autobombe der Geschichte geht auf das Konto eines italienischen Anarchisten namens Mario Buda. Neben dem Dynamit hatte er bewusst Eisenteile aufgeladen, die bei der Explosion eine verheerende Schrapnellwirkung entfalteten. Die Schäden an der Fassade von J. P. Morgan sind noch heute zu sehen. Man hatte sie ganz bewusst nicht entfernen lassen.

„Propaganda der Tat“
Diese beiden Beispiele zeigen gut, dass Terrorismus ein Phänomen ist, dass sich zu einem Gutteil durch die Wiederkehr des Gleichen auszeichnet. Das Kalkül ist seit mehr als 150 Jahren dasselbe geblieben: Durch Verbreitung Angst und Schrecken radikalen politischen Wandel zu erzwingen, aber auch Gleichgesinnte zu inspirieren. Zum ersten Mal äußerte das der Revolutionär Carlo Pisacane. Er trat Mitte des 19. Jh. für die Schaffung eines geeinten Italien ein. Um dieses Ziel zu erreichen, plädierte er für eine „Propaganda der Tat“ und begründete dies so:
„Ideen gehen aus Taten hervor und nicht umgekehrt.“
Gewalt sei notwendig, um Aufmerksamkeit zu erregen und schließlich die Massen zusammenzuführen.
Damit ist Piscane persönlich gescheitert: Als er versuchte, einen Aufstand in Kalabrien zu entzünden, wurde seine kleine Truppe am 2. Juli 1857 eingekreist und aufgerieben. Die Bauern, die er befreien wollte, beteiligten sich an dem Massaker. So erfolglos Pisacane letztendlich war, das Konzept von der Propaganda der Tat ist bis heute der Kern des Terrorismus, gleich welche Ausprägung dieser seither angenommen hat.

„Goldene Ära“ des Attentats
Die historische erste Phase – wozu auch die beiden eingangs erwähnten Fallbeispiele gehören – war die sogenannte „goldene Ära“ des Attentats: Anarchistische Kleingruppen und Einzeltäter nahmen zunächst höchste Repräsentanten des Staats ins Visier. Man war überzeugt, das würde genügen um ein „morsches“ System einstürzen zu lassen.
Erster spektakulärer Fall war die Ermordung von Zar Alexander III. in St. Petersburg (1883). Weitere prominente Opfer waren unter anderem der französische Staatspräsident Carnot (1894), Kaiserin Elisabeth von Österreich (1898), König Umberto von Italien (1900), US-Präsident McKinley (1901) und Erzherzog Franz Ferdinand (1914). Aber nicht nur gekörnte Häupter zählten zu den Opfern – sondern der Terror sichtete sich auch bereits gegen Menschenansammlungen.

Die Wirkung, die von dieser „Ära der Attentate“ ausging, klingt heute vertraut: Paris beispielsweise wurde in den 1890er Jahren von Spekulationen und Gerüchten in Atem gehalten. Säuren seien in die Wasserversorgung geschüttet worden, Kirchen vermint und anarchistische Gewalttäter würden hinter jeder Ecke lauern. Das öffentliche Leben glich einem „Tanz auf dem Vulkan“ wie es ein Historiker beschrieb.
Angesichts der Häufung von Attentaten entstand der der Eindruck einer internationalen Verschwörung. Von den Behörden wurde dies nach Kräften geschürt. In den 1880er Jahren gab die französische Polizei selbst eine „anarchistische“ Zeitung heraus. Informanten und Agent Provokateurs waren am Werk. Die politischen Folgen überhaupt völlig kontraproduktiv, ehe das Massensterben des 1. Weltkriegs die Schockkapazität der Gesellschaften erschöpfte und der anarchistische Terror von der Bildfläche verschwand.
Terrorist oder Freiheitskämpfer?
Der nächste Entwicklungsabschnitt wird oft als „antikoloniale Phase“ bezeichnet: Terrorismus war hier Teil von Guerillakriegen und Aufständen gegen westliche Kolonialmächte – in Palästina, Zypern oder Algerien. Oder es handelte sich um separatistische Gruppen wie die ETA in Spanien oder die nordirische IRA. Diese waren jahrzehntelang aktiv, weil sie sich auf die Unterstützung eines Teils der Bevölkerung verlassen konnten. All das spielte sich vor dem Hintergrund des Kalten Krieges ab, der die Welt in zwei ideologische Lager teilte. Von daher rührt auch das Diktum, wonach der Terrorist des einen, der Freiheitskämpfer des anderen sei.

Beispielsweise unternahm die Befreiungsfront FLN 1956/57 bewusst Anschläge gegen Zivilisten in Algier. Und zwar weil dort die internationalen Medien konzentriert waren und über alle Ereignisse in der Großstadt berichteten. In diesem Zusammenhang ist von einem der Initiatoren der Ausspruch überliefert: „Eine Leiche im Anzug ist zwanzig Mal so viel wert wie 20 in Uniform.“
Terrorismus ist also immer auch eine Kommunikationsstrategie – nur durch die mediale Verbreitung entfaltet sich die volle Wirkung der Propaganda der Tat. Und weil terroristische Gewalt spektakulär und außergewöhnlich ist, ist es für die Medien fast unmöglich, diese zu ignorieren. Im Grunde war es das Zusammenspiel zwischen der Erfindung des Dynamits (1866) und dem Aufkommen der Massenpresse Mitte des 19. Jahrhunderts, die die Genese des Terrorismus seither bestimmten.
Internationaler Terrorismus
Ende der 1960er Jahre erfolgt ein weiterer qualitativer Sprung – die Internationalisierung. Weil palästinensische Gruppen mit dem Konzept eines „Volkskriegs“ gescheitert waren, weiteten sie ihren Kampf aus – umso die Weltöffentlichkeit auf den Konflikt aufmerksam zu machen und Druck in Richtung einer politischen Anerkennung auszuüben.
Ab 1968 begannen kleine Kommandos, zunächst von Georges Habashs Volksfront zur Befreiung Palästinas (PLFP) und später von Wadi Haddads PLFP-„Special Group“ Passagierflugzeuge zu entführen. Und es kam zu spektakulären Operationen in westlichen Ländern – hier ist vor allem die Geiselnahme israelischer Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München zu nennen.
Das Großevent bot die ideale Bühne für die Terroristen: Mindestens 6.000 Journalisten und Berichterstatter waren in München versammelt. Sie erreichten ein Publikum von 900 Millionen Menschen in bis zu 100 verschiedenen Ländern. Dass die Sportveranstaltung live übertragen wurde, kam 1972 einem „technologischen Wunder“ gleich, weshalb der österreichische Psychologe Friedrich Hacker zum Schluss kam:
„Am 5. September 1972 stellte der Terrorismus einen neuen Weltrekord auf: noch niemals zuvor war es so wenigen gelungen, so viele durch Schreckenserregung und Furchteinflößung in ihren Bann zu schlagen.“

Aber auch in den Industrienationen selbst wurden ab Ende der 1960er Jahre kleine Gruppen aktiv, die sich als „Avantgarde“ verstanden und untereinander vernetzt waren. Gleich ob Rote Armee Fraktion, Brigate Rosse, Action Directe, Japanische Rote Armee oder Weather Underground sie alle beabsichtigten, eine Revolution anzuzetteln – mittels des „bewaffneten Kampfes“ gegen die Repräsentanten des „Systems“: Politiker, Polizei- und Justizbeamte sowie Wirtschaftsführer. In vielerlei Hinsicht war es eine Neuauflage des anarchistischen Terrorismus und auch die Folgen ähnelten sich: Rechtsruck, mehr Befugnisse für die Polizei und Druck auf abweichende Meinungen. Erst mit Ende des Kalten Krieges klang auch diese Terrorwelle ab.
Rechtsterrorismus
Rechte Gewalt spielte durchgängig eine wichtige Rolle. Den verschiedenen Organisationen, Splittergruppen und Geheimbünden waren folgendes gemeinsam: Der Kampf gegen die liberale Demokratie und den „jüdischen“ Kapitalismus sowie die Abwehr des Kommunismus. Die Zerstörung des Bestehenden sollte den Weg freimachen für einen Wiederaufstieg zu verloren gegangener Größe und Bedeutung.
Während der anarchistische und linksextreme Terrorismus das System schwächen und zerstören will, strebt der Rechtsterror das genaue Gegenteil an: Ihm geht es um die Stärkung des Staates. Anschläge sollen Verunsicherung und Panik säen – bis die Bevölkerung bereit ist, eine autoritärere Ordnung zu akzeptieren.
An Beispielen sind hier zu nennen: Morde an linken Politikern wie Rosa Luxemburg oder Karl Liebknecht, der Terror der Geheimen Armeeorganisation in Frankreich, Anschläge auf Massenziele wie den Bahnhof von Bologna und das Münchner Oktoberfest (1980) sowie die Mordkampagne des Nationalsozialistischen Untergrunds, NSU. In den USA sind seit 2001 mehr Menschen Opfer rechter Gewalt geworden als von radikalen Islamisten.

Radikal-Islamistischer Terrorismus
Womit wir beim Terrorismus in seiner derzeitigen Haupt-Ausprägung angekommen wären. Ein erster Schub ereignete sich bereits in den 1980er Jahren. Damals setzte die vom Iran unterstützte Hisbollah zum ersten Mal Selbstmordattentate strategisch ein – gegen die US-Botschaft, die CIA-Station und die Kaserne der Marines in Beirut. Gleichzeitig tobte in Afghanistan der „Jihad“ gegen die Rote Armee. 25.000 Freiwillige, sogenannte Mujaheddin, nahmen an daran teil – darunter auch Osama Bin Laden. Der Beitrag zum Kriegsgeschehen war marginal, dennoch herrschte nach dem sowjetischen Rückzug (1989) das Triumphgefühl vor, den „gottlosen“ Kommunismus besiegt zu haben.
In den 1990er Jahren verteilten sich viele dieser Kriegsfreiwilligen auf verschiedene lokale Konfliktherde wie Bosnien, Ägypten und Algerien. Vor allem in letzteren beiden Ländern verzettelten sich die Jihadisten in blutige Kleinkriege. Osama Bin Laden und sein Stellvertreter Ayaman Al-Zawahiri waren hauptverantwortlich für einen Strategiewechsel: Statt dem „nahen Feind“, den Autokratien im Nahen Osten, galt es nun, den „fernen Feind“, die USA, anzugreifen. Diese würden sich dann aus der Region zurückziehen und ihre Verbündeten fallenlassen. Die Anschläge des 11. September 2001 traten dann jenen Kreislauf aus Anschlägen und militärischen Interventionen los, in dem wir uns bis heute wiederfinden.
Im Unterschied zu den vorangegangenen Wellen wird der politische Aspekt nun durch religiöse Komponente überlagert. Aber man findet beim radikal-islamistischen Terrorismus auch vieles, dass mehr auf Kontinuität und Weiterentwicklung schließen lässt. So etwa die Vorstellung, dass die Taten einer „gesegneten Avantgarde“ die Massen inspirieren würden, ihrem Beispiel zu folgen.
Der Islamische Staat (IS), der ab 2014 große Teile des Irak und Syriens kontrollierte, übertrifft seine Vorgänger in Sachen militärischer Stärke, territorialer Kontrolle, mediale Inszenierung und eigenen Einkommensquellen. Aber dieser Vorsprung stellt keine Mutation dar, sondern resultiert aus der Fähigkeit des IS, sich dem Umfeld in einer globalisierten Welt anzupassen.
Der größte Unterschied zwischen dem derzeitigen Terrorismus und dem „alten“ besteht in den völlig veränderten Rahmenbedingungen: „Der ‚alte’ Terrorismus“ war Teil des Zeitalters des Kalten Krieges und wurde darüber hinaus vom Nahost-Konflikt geprägt. Es dominierten Kaderorganisationen mit fixen Basen. Heute sehen wir uns losen Netzwerken und Einzeltätern gegenüber. Und schließlich haben sich die Kommunikationsmöglichkeiten durch das Internet und Soziale Medien potenziert. Nunmehr kann ein globales Publikum direkt und ohne Umweg über die Massenmedien erreicht werden.
Attentate wie zuletzt in Paris, Brüssel, Nizza, London, Berlin und Barcelona wurden überwiegend von Jihad-Unterstützern oder Kleingruppen begangen, die oft nur indirekt mit dem IS oder Al Qaida verbunden waren. Es bedarf mittlerweile keiner monatelangen Planung, keiner explodierenden Busse und fallender Türme, um zu terrorisieren (Peter Neumann). Immer wieder werden Menschenansammlungen zum Ziel – mit der Absicht wahllose Massenverluste anzurichten. Und im Unterschied zu früher ist selbst der Tod des Attentäters der bevorzugte Endpunkt des Einsatzes – und keine unglückliche Folge mehr – ob er sich nun in die Luft sprengt oder von der Polizei erschossen wird.
Die neue Wahllosigkeit
Hier wird deutlich, in welchem Umfang sich der Terrorismus entgrenzt hat. Nur zum Vergleich – alleine in einem achtmonatigen Zeitraum zwischen 1971 und 1972 verzeichnete das FBI 2.500 Bombenexplosionen auf US-Boden, fünf am Tag. Aber nur ein Prozent davon war tödlich. Dagegen erlebt Europa seit zwei Jahren wieder mehr und blutigen Terrorismus: Mehr als 330 Zivilisten sind in über einem Dutzend Anschläge getötet worden.
Ein Ereignis wie die OPEC-Geiselnahme (1975) war teilweise staatlich gesteuert und sollte ein definiertes Ziel durchsetzen. Nachdem sich die Erdölminister in der Hand der Terroristen befanden, wurde unnötiges Blutvergießen vermieden. Damals galt noch der Grundsatz:
„Terroristen wollen, dass möglichst viele Menschen zuschauen und nicht, dass möglichst viele Menschen sterben.“
In den mehr als vier Jahrzehnten seither ist Terrorismus zu einer Bedrohung für alle geworden – niemand soll sich mehr sicher fühlen. Bei der Gewalt gibt es keine Beschränkung mehr, und das Kalkül dahinter ist zur Provokation eines apokalyptischen „Kriegs der Zivilisationen“ verschwommen
Auch wenn es Abstufungen gibt, so hat ein ehemaliger britischer Polizeioffizier die neue Realität kürzlich auf den Punkt gebracht:
„Every morning that you wake up and nothing has happened is a success.“
Es ist wahrscheinlich, dass sich der radikal-islamistische Terrorismus letztlich von selbst „totlaufen“ wird, weil dieser außer nihilistischer Gewalt nichts anzubieten hat. Das haben historische Erfahrungen in Algerien oder Ägypten während der 1990er Jahre gezeigt, aber auch der Macht- und Einflussverlust des IS legt dies nahe.
Wurzeln beseitigen
Schließen möchte ich mit einem Gedanken, den Bruno Kreisky anlässlich eines Empfangs von Gaddafi in Wien herausgestrichen hat:
„Man bekämpft also das Phänomen des Terrorismus am wirksamsten mit politischen Mitteln, indem man seine Ursachen beseitigt.“
Das ist natürlich leichter gesagt, als getan. Es gibt aber Beispiele wie Nordirland, Südafrika oder Kolumbien, wo es gelungen ist, jahrzehntelange Konflikte durch Kompromisslösungen zu entschärfen. Das wird mit dem radikal-islamistischen Terrorismus so nicht gelingen, aber wie zuletzt der ehemalige General und CIA-Direktor David Patreaus hat aufhorchen lassen:
„You can’t just drone strike or Delta Force raid your way out of this problem. It takes a comprehensive approach.“
Damit meinte er die Notwendigkeit eines umfassenden Ansatzes, also neben militärischen und nachrichtendienstlichen Operationen auch die politischen und sozialen Wurzeln der Gewalt anzugehen. Und darunter sind Maßnahmen für mehr Bildung und Aufstiegschancen genauso zu verstehen wie konsequentes Einschreiten gegen jihadistische Propaganda und radikale Milieus auf der Basis des Rechtsstaats. Patreaus hat von einem generationenlangem Kampf gesprochen, aber wie der Blick zurück gezeigt hat, ist Terrorismus von Beginn an ein dunkler Schatten über der Moderne.