Vor 44 Jahren wurden russische Juden am Grenzbahnhof Marchegg von palästinensischen Terroristen als Geiseln genommen. Es war eine der schwersten Krisen in der Geschichte der 2. Republik. So viel ist bekannt. Neue Dokumente zeigen: Ausgerechnet das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) durchkreuzte zufälligerweise noch weitergehende Pläne der Terroristen. Zwei von ihnen wurden „abgefangen“. Womit deutlich wird: Das angeblich symbiotische Verhältnis zwischen Ostblock-Staaten und dem „internationalen Terrorismus“ war wesentlich komplizierter.
In Schönau an der Triesting, 30 km südlich von Wien, erinnert heute nichts daran, dass hier einmal das Epizentrum eines internationalen Konflikts war. Das liegt vor allem daran, dass der historische Kern – das aus dem 18. Jh. stammende Schloss – 2005 an eine Privatstiftung verkauft wurde. Nun werden dort Ferienwohnungen vermietet. Dabei gibt es gute Gründe, sich die Bedeutung dieses Orts in Erinnerung zu rufen: Zwischen 1965 und 1973 war das Schloss Durchgangsstation für rund 70.000 osteuropäischer Juden in die neue Heimat Israel. Insgesamt sollte Österreich noch bis Ende des Kalten Krieges das Transitland für insgesamt mehr als 250.000 Jüdinnen und Juden sein. Wie der Historiker Tom Segev festgestellt hat, gab es „kaum einen wichtigeren Beitrag zur Förderung der zionistischen Bewegung“ als diesen.

Durchgangsstation nach Israel
Im Schloss Schönau betrieb die Jewish Agency, die Einwanderungsorganisation Israels, seit 1965 ein „Transitlager“, wo die Ankömmlinge aufgenommen und auf Weiterreise vorbereitet wurden. Ende der 1970er Jahre, nachdem die Einrichtung geschlossen worden war, erlebte Schönau dann eine zweite Zäsur: Im freigewordenen Schloss bezog das Gendarmerieeinsatzkommando, die Vorgängerorganisation des heutigen Einsatzkommando Cobra, Quartier. Die Antiterrorkämpfer sollten 1992 in einen Neubau bei Wiener Neustadt wechseln.
Diese beiden Funktionen, die Schönau erfüllte – als Durchgangsstation und als Ausbildungsstätte – sind untrennbar miteinander verbunden. Denn die Tatsache, dass hier lange Zeit eine „Lebenslinie“ des Staates Israels verlief, hatte Konsequenzen: Anfang der 1970er Jahre formierte sich der internationale Terrorismus. Vor allem palästinensische Gruppen begannen auf ihre Sache aufmerksam zu machen – mit Anschlägen gegen die Zivilluftfahrt, der Geiselnahme israelischer Sportler in München (1972) und eben auch mit Operationen, die sich gegen die jüdische Emigration richteten. Der Zustrom aus dem Ostblock wurde als feindliche „demografische“ Stärkung Israels angesehen, die es zu kappen galt.
Schönau war in diesem Zusammenhang besonders gefährdet – über die Jahre hatte es sich zu einem regelrechten „Symbol“ entwickelt. Alleine zwischen 1970 und 1973 wurden sieben Bombendrohungen und verdächtige Aktivitäten registriert. So richtig aufgeschreckt wurden die Behörden durch eine Warnung Anfang Juni 1972: Die Japanischen Rote Armee, die sich den Palästinensern anschlossen hatte, plane einen Anschlag gegen Schönau. Umgehend veranlasste man die Aufstellung einer eigenen Gendarmerieeinheit zum Schutze der Emigranten. Eben aus jener Truppe sollte in späterer Folge die „Cobra“ hervorgehen.
Noch handelte es nicht um Spezialkräfte, sondern um „ganz normale“ Beamte, die sich für drei Monate zuteilen ließen. Sie überwachten die Ankunft der Emigranten, die den Ostblock überwiegend per Bahn verließen, eskortierten diese dann nach Schönau bzw. danach zum Flughafen Schwechat, von wo aus der Abflug mit der El Al nach Israel erfolgte. Dieses Sicherheitskonzept war so engmaschig, dass selbst die israelische Premierministerin Golda Meir noch in ihren Memoiren Lob spendete.
Komplizenschaft des Ostblocks?
Es gab jedoch eine „Lücke“, die man nicht im Griff hatte – und zwar den Zeitraum bevor die Züge den „Eisernen Vorhang“ passierten und die Grenzbahnhöfe im Weinviertel erreichten. Und so war es dann auch am Vormittag des 28. September 1973: Zwei Araber bestiegen in Bratislava den Zug Nr. 2590 ein und hatten bei der Ankunft in Marchegg bereits sechs Geiseln genommen.
Lange hielt sich die Vermutung, dass die Tschechoslowakei die Terroristen quasi freie Hand gelassen hatte. Ein klassischer Fall von „state sponsorhip of terrorism“. Die US-Journalistin Claire Sterling, die diese These während der 1980er Jahre besonders vehement vertrat, ging in ihrem Buch „The Terror Network“ (1981) auch auf die Marchegger Geiselnahme ein. Die beiden Terroristen seien von Beirut über Paris nach Bratislava gelangt:
„Sie warteten eine ganze Weile in der tschechoslowakischen Grenzstadt, bis der richtige Zug einfuhr, ihre Kalaschnikows und andere Waffen hielten sie unter den Mänteln verborgen. Jeder, der schon einmal versucht hat, die Grenze der sowjetisch besetzten Tschechoslowakei zu überschreiten, dürfte wissen, worauf ich hinaus will.“
Neue Erkenntnisse aus Stasi-Dokumenten
Doch Unterlagen, die dem Autor auf Antrag von der Berliner Behörde für die Unterlagen des Staatssicherheitsdiensts der DDR (BStU) zur Verfügung gestellt wurden, zeigen, dass die These von der stillen Komplizenschaft so nicht stimmen kann. Das mit „streng geheim“ gekennzeichnete Konvolut belegt, dass der ursprüngliche Plan für die Geiselnahme viel ambitonierter war, als bisher angenommen: Am 20. September 1973, acht Tage vor dem Marchegger Anschlag, waren auf dem Flughafen Schönefeld in Ost-Berlin zwei Palästinenser festgenommen worden – mit „verfälschten“ Reisepässen ausgewiesen als Abbas Hussein Salman und Ibrahim Mohamed Mansour. Im ihrem Reisegepäck waren zwei Handgranaten, zwei Zünder, eine belgische Armeepistole (FN 35), drei Magazine sowie dazugehörige 39 Patronen gefunden worden.

Laut den Dokumenten wurde „Salman“ als erster am 27. September 1973 vom MfS vernommen – also nur 24 Stunden vor den Ereignissen in Marchegg:
„Seinen Aussagen zufolge, sollte er unter Mitnahme der bei ihm gefundenen Handgranaten unter Zugrundlegung seiner englischen Sprachkenntnisse den Beschuldigten MANSOUR von Damaskus über Berlin-Schönefeld und Belgrad nach Bratislava begleiten. In Bratislava sollte MANSOUR mit einem nur diesem bekannten, sich bereits in der CSSR aufhaltenden Mitglied der Organisation zusammentreffen, dem sie die Waffen übergeben sollten. Diese Person sollte die Beschuldigten in ein Internat für arabische Studenten bringen, wo sie Unterkunft finden sollten. Unter Anwendung der sichergestellten Waffen sollte von MANSOUR und anderen Personen ein durch Bratislava fahrender Zug, in dem sich jüdische Bürger, die nach Israel einwandern wollen, befinden, zum Halten gebracht werden. Von den angetroffenen jüdischen Bürgern sollten etwa 10 Erwachsene zum Verlassen des Zuges gezwungen und mit einem Bus zu einem Flugplatz gebracht werden.“
Während „Salman“ Österreich als Anschlagziel nicht erwähnt hatte, sondern von der CSSR gesprochen hatte, war sein Kollege „Mansour“ redseliger. Wahrscheinlich deswegen, weil sein Verhör am 1. Oktober 1973 stattfand und es nunmehr nicht mehr notwendig war, die Operation zu verschleiern. Bratislava sei der Ausgangspunkt „einer österreichischen Territorium geplanten und gegen jüdische Bürger gerichteten Aktion“ gewesen:
„Der Beschuldigte MANSOUR sagt dazu aus, dass die an der Aktion Beteiligten in Bratislava über die Art und Weise des Betretens des Territoriums Österreichs instruiert werden sollten. Weiterhin war dem Beschuldigten durch ‚Abu Jihad‘ mitgeteilt worden, dass sich die Gruppe nach dem Passieren der Staatsgrenze nach Wien begeben und dort weitere Weisungen erhalten sollte.“
Die beiden Araber gaben im Verhör nur so wenig wie möglich zu. Klar ersichtlich ist aber, dass sie zu dem Geiselnehmer-Kommando in Marchegg gehörten hätten. Aber sie waren wegen der nur notdürftig versteckten Waffen aufgefallen und hatten es nie weiter nach Bratislava geschafft. Das bedeutete, dass die Operation letztlich nur von zwei statt von mehreren Terroristen durchgeführt wurde. Dadurch war auch die Zahl der Geiseln geringer und das Unternehmen musste rasch beendet werden, weil ein Duo nur eine begrenzte Zeit durchhalten konnte. Die österreichischen Behörden wurden von der Festnahme in Berlin-Schönefeld laut Aktenlage nicht informiert, aber das MfS verhinderte ihre Weitereise zum Zielort. Auch wenn man in den Palästinensern Verbündete sah und später immer wieder Hilfen an Terrorgruppen leistete, galten die jüdischen Auswanderer als sowjetische Bürger und waren daher schützenswert.

Die Marchegger Geiselnahme
Verhindert wurde die Geiselnahme freilich nicht: Bei den beiden Männern, die sich bereits seit 31. August 1973 in Bratislava aufhielten, handelte es sich um Mustapha Soueidan (25) und Mahmoud Khaidi (27). So wie ihre in Ost-Berlin abgefangenen Kameraden waren sie Angehörige der Saika, einer obskuren Gruppe, die vor allem vom syrischen Geheimdienst unterstützt wurde. Wie es ihnen gelang, bewaffnet an Bord des Auswandererzuges zu gelangen, davon ist in den Stasi-Unterlagen nicht die Rede. Gut möglich, dass sich die tschechoslowakische Staatssicherheit (StB) die palästinensischen Gruppen, die nominell zum östlichen Lager gehörten, nicht zum Feind machen wollte. Zu diesem Befund gelangte auch jüngst die Historikerin Daniela Richterova im Zuge von Recherchen im Security Services Archive in Prag. Die StB sei generell ein „besorgter“ Gastgeber“ gewesen, der terroristische Akteure wie Carlos den „Schakal“ zweitweise beherbergt habe – aber vor allem aus Angst vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen sowie ideologischer Affinität und nicht, weil man sich ihrer aktiv bedienen wollte.Link

Im Falle von Marchegg dürfte ohnedies kein Komplott zur Destabilisierung der westlichen Demokratien im Vordergrund gestanden haben, sondern ein Ablenkungsmanöver. Dieses war dem Nahostkonflikt geschuldet. Denn am 6. Oktober 1973 brach der Jom-Kippur-Krieg los. Und die Aufmerksamkeit politischer und nachrichtendienstlicher Stellen in Israels war zuvor tagelang auf das Geiseldrama und seine Folgen gerichtet gewesen. Mit fatalen Folgen – Israel wurde vom ägyptisch-syrischen Angriff praktisch überrumpelt.

„Kummt’s auße, ihr Scheißhund“
Für Österreich bedeutete die Geiselnahme die erste direkte Konfrontation mit dem internationalen Terrorismus. Bei der Ankunft am Vormittag des 28. September hatten die zwei Terroristen fünf Emigranten in ihren Händen: Ein älteres Ehepaar, die dreiköpfige Familie Czaplik sowie den Zöllner Franz Bobbits. Frau Czaplik nutzte alsbald eine Gelegenheit, um mit dem kleinen Sohn zu entkommen. Das hätte nicht funktioniert, wenn es mehr Bewaffnete gewesen wären.

Aus einem Schreiben, das die Geiselnehmer übergaben, ging hervor, dass sich die Aktion gegen die jüdische Emigration richtete. Die Behörden waren heillos überfordert: Obwohl der Bahnhof abgeriegelt war, gelang den Terroristen mit ihren Geiseln die Abfahrt in einem VW-Pritschenwagen. Den nachfolgenden Einsatzfahrzeugen versperrte eine Bahnschranke plötzlich den Weg. Nur unter Drohungen ließ sich der Wärter bewegen, den Balken hochzulassen. Der von Bobbits gesteuerte VW fuhr dann bis auf das Rollfeld des Flughafen Schwechat – bevor zwei abgestellte Maschinen erreicht werden konnten, schnitt ihm ein Flughafenbediensteter den Weg ab. Kaum hatte der VW Halt gemacht, näherten sich vier Polizisten, einer davon zornig selbstsicher. Er schrie:
„Kummt’s auße, ihr Scheißhund, i rotz euch das ganze Magazin in den Bauch.“
Die Terroristen verstanden natürlich kein Wort und fragten einen ebenfalls anwesenden Fotografen: „What does he want?“ Um die Situation zu entschärfen, meinte der „Übersetzer“ beschwichtigend:
„Der ärgert sich, weil er wegen euch jetzt Dienst hat.“

Von da an herrschte ein quälend langer „stand off“: Bis in die späten Nachstunden blieben Täter wie Opfer in den engen Wagen gedrängt. Nur ein Fenster war einen Spaltbreit geöffnet. Rund herum bezogen die Einsatzkräfte Stellung, während eine stetig größer werdende Gruppe von Entscheidungsträgern eintraf – vom Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit über arabische Diplomaten bis hin zum Präsidialchef der Gemeinde Wien. Kompetenzstreitigkeiten und Chaos waren die Folge. Sogar zwei Psychiater machten sich vor Ort ein Bild und kamen zur Ansicht, dass die Araber unter Drogeneinfluss standen.
Eine Befreiungsaktion wurde zu keinem Zeitpunkt erwogen. Zu frisch war die Erinnerung an den Tod der neun israelischen Sportler in München nur wenige Monate zuvor, als der Zugriff der bayrischen Polizei katastrophal scheiterte. Wahrscheinlich war es nur gut, dass nichts unternommen wurde, denn es funktionierte nicht einmal die Absperrung: Um 22. 30 Uhr stand plötzlich ein alkoholisierter Zivilist beim Wagen der Terroristen und gab sich als „Hauptmann Soherr“ aus. Da erkannte der Sicherheitsdirektor von Niederösterreich, Emil Schüller, den Ernst der Lage und gab Abweisung den Eindringling zu „entfernen“.
Krisensitzung auf höchster Ebene
Währenddessen tagte in Wien der Ministerrat. Bundeskanzler Bruno Kreisky hatte die Nachricht erst relativ spät erreicht, als er von einer Wahlkampfbesprechung zurückgekehrt war. Innerhalb der versammelten Runde plädierte vor allem Justizminister Christian Broda dagegen, „Menschenräubern“ Beihilfe zu leisten. Kreisky wiederum stellte klar, dass die Regierung unter Einbeziehung der arabischen Botschafter verhandeln würde – einen Abflug der Terroristen mit den Geiseln aber unter keinen Umständen zulassen würde. Die Stimmung war gedrückt:
„Es ist furchtbar. Keiner von uns hat je Entscheidungen über Leben und Tod getroffen.“
Das Krisenmanagement stellte Kreisky ständig vor neue Probleme. So musste man verzweifelt ein Flugzeug für das Ausfliegen der Terroristen finden, denn die AUA weigerte sich, ihre Piloten dem Risiko auszusetzen. Quasi in letzter Minute beschaffte man bei der SPÖ-Vorfeldorganisation ASKÖ in Graz eine kleine Cessna mit zwei Piloten. Kreisky ärgerte sich:
„Ich habe Order gegeben, sie sollen herfliegen. Das ist das einzige Flugzeug. Alles grotesk.“

Kurz danach gab der Bundeskanzler den arabischen Diplomaten ein neues Angebot mit auf den Weg nach Schwechat – „eine sukzessive Reduzierung des Judentransfers“. Um 01.10 Uhr wurde eine Erklärung des Ministerrats im Radio übertragen, wonach „die bisher gewährten Erleichterungen, wie die Unterbringung im Lager Schönau“ eingestellt würden. Daraufhin waren die Terroristen bereit, ohne Geiseln Österreich zu verlassen. Um 02.20 Uhr hob die Cessna ab. Nach einem Irrflug über Dubrovnik, Palermo und Sardinien erlaubte schließlich Libyen die Landung, Die beiden ASKÖ-Piloten Alexander Hincak und Karl Geiger, die sich freiwillig gemeldet hatten, waren wohl die einzigen Helden in dem Drama.
Der Ausgang rief ein überwältigendes negatives Echo hervor. Kreisky wurde vorgeworfen, vor dem Terror kapituliert zu haben. Golda Meir kam persönlich nach Wien, um ihn von dem Vorhaben abzubringen. Dabei kam die jüdische Emigration – auch aufgrund des internationalen Drucks – keineswegs zum Erliegen, sondern erreichte erst in den folgenden Jahren ihren Höhepunkt. Nunmehr wurde alles über das Rote Kreuz organisiert. Statt in Schönau wurden die Emigranten kurz in Wöllersdorf und dann später in Kaiserebersdorf beherbergt.
„Ohne, dass jeden Monat Bombe explodiert ist“
In den Folgejahren unternahm Kreisky vor allem außenpolitisch viel, um das Terrorrisiko zu mindern. Seine guten Kontakte zu PLO-Führer Jassir Arafat und Libyens Staatschef Gaddafi zielten darauf ab, zu einer Entspannung des Nahostkonflikts beizutragen. Tatsächlich blieb Österreich im Vergleich zu anderen Ländern vom Terrorismus relativ verschont. Zwischen 1981 und 1985 kam es jedoch zu drei Anschlägen, die insgesamt sechs Tote und Dutzende Verletzte forderten. Verantwortlich waren der PLO-Abweichler Abu Nidal und dessen „Sponsor“ Syrien, denen die österreichische Unterstützung für Arafat ein Dorn im Auge war. Trotzdem blieb Kreisky bei seiner Linie. Eben wegen seiner Nahostpolitik seien Hunderttausende Juden nach Israel ausgewandert,
„ohne, dass jeden Monat in Schwechat eine Bombe explodiert ist“.