Vor 75 Jahren führten norwegische Widerstandskämpfer eine der spektakulärsten Kommandooperationen des 2. Weltkriegs durch: Die Sabotage des deutschen Atomprogramms.
Das Rentierblut schmeckte wie ein Lebenselixier. Wärme durchflutete den ausgefrorenen Körper des Jägers. Anschließend häutete und zerteilte er die Beute. Nach einer Woche hatte Jens-Anton Poulson endlich Glück gehabt. Das sicherte ihm und seinen drei Kameraden das Überleben. Sie alle hatten zuvor mit bitterer Suppe aus rostfarbenen Moos Vorlieb nehmen müssen und waren völlig geschwächt. Im Winter ist die Hardangervidda, die größte Hochebene Europas, eine eisige, lebensfeindliche Umgebung. Das war auch der Grund, warum sich die deutsche Wehrmacht kaum in das Gebiet im südlichen Norwegen vorwagte.
Poulson und sein Team von Widerstandskämpfern war hier am 18. Oktober 1942 mit dem Fallschirm gelandet. Ihr Auftrag: Die Landezone einer britischen Kommandotruppe zu markieren und diese in Empfang zu nehmen. Am 19. November 1942 standen sie bereit und hörten die zwei Flugzeuge mit den Lastenseglern im Schlepptau kommen. Aber die Geräusche verschwanden. Irgendwann drehten die Norweger ihre Signallichter ab und zogen sich in ihr Versteck zurück.
Vor ihnen lag eine monatelange Wartezeit mitten in einer Eiswüste. Denn Operation Freshman hatte in einer Katastrophe geendet. Aufgrund von Schlechtwetter waren die Piloten vom Kurs abgewichen. Es kam zu Bruchlandungen. Die teils schwer verletzten Soldaten fielen dem Feind in die Hände und wurden exekutiert. Fünf Gefangene folterte die Gestapo, ehe man sie ermordete. Viel hatten sie nicht preisgegeben. Aber ein Fund an der Absturzstelle ließ auf das Ziel schließen. Auf einer Seidentuch-Karte war ein Ort am südöstlichen Rand der Hardangervidda markiert: Vemork.
Das dortige Wasserkraftwerk war zum Zeitpunkt seiner Erbauung 1911 das größte weltweit. Das war nicht die einzige Besonderheit des Orts. Man nutzte die gewonnene Energie zur Erzeugung von Kunstdünger. Ein Nebenprodukt waren kleine Mengen von Deuteriumoxid, auch „schweres Wasser“ genannt. 1936 warf Vemork 40 kg schweres Wasser ab, zwei Jahre später sollten es 80 kg sein. Doch schon 1939 gab man auf, weil es nicht genug Nachfrage gab. Im selben Jahr sollte der Ausbruch des 2. Weltkriegs alles ändern. Fast zeitgleich hatte die Atomphysik enorme Fortschritte gemacht. 1938 war die Kernspaltung entdeckt worden und damit die Möglichkeit, mittels Kettenreaktion eine enorme Energiemenge freizusetzen. Damit war der Weg zur Entwicklung der Atombombe vorgezeichnet.
Auf deutscher wie alliierter Seite wollte man diese Waffe so bald wie möglich verwirklichen. Hier kam das schwere Wasser ins Spiel. Denn für den Betrieb der Forschungsreaktoren bedurfte es eines Moderators, um die bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen abzubremsen. Der damals am besten bekannte Moderator war schweres Wasser – und sein weltweit einziger Produzent die Fabrik in Vemork.
Es folgte ein regelrechtes Rennen der Geheimdienste, sich des schweren Wassers zu bemächtigen. Frankreich hatte die Nase vorn. Im März 1940 wurden die vorhandenen 185 kg in 26 Flaschen abgefüllt nach Paris geschmuggelt. Bevor sie dort den Deutschen in die Hände fallen konnten, schiffte man die Flaschen nach Großbritannien aus, wo sie zeitweise im Keller von Windsor Castle gelagert wurden. Die Wende kam mit der deutschen Besetzung Norwegens im April 1940. Hitler wollte die Rohstoffe und die Industrien des neutralen Landes für seine Kriegsanstrengungen ausbeuten. Dazu gehörte, die Produktion von schweren Wasser in Vermok zunächst auf 4 kg pro Tag hochzufahren. Empfänger war der „Uranverein“ am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut – ebenso wie von mehreren Tonnen Uran, die in Belgien erbeutet worden waren. Ein General fragte den Institutsleiter und Nobelpreisträger Werner Heisenberg, wie groß die Bombe sein werde, die eines Tages New York auslösche. „In etwa so groß wie eine Ananas“, lautete die vielversprechende Antwort.
In Großbritannien läuteten längst Alarmglocken. Über das, was in Vermok geschah, verfügte man über exzellente Erkenntnisse. Quelle war der norwegische Widerstand. Dieser beschaffte Grundrisspläne, Fotos und Zeichnungen der Apparaturen. Darüber hinaus taten nun viele Norweger Dienst in der britischen Armee Dienst – genauer gesagt im eigens eingerichteten norwegischen Arm des Special Operations Executive (SOE). Das war ein Spezialverband für unkonventionelle Kriegsführung hinter feindlichen Linien. Das SOE hatte die volle Unterstützung von Premier Winston Churchill, der der Sabotage des deutschen Atomprogramms höchste Priorität zumaß. Zur Vorbereitung absolvierten die Norweger ein hartes Kommandotraining in Schottland.

Wie bereits erwähnt hatte Operation Freshman, der erste Einsatz gegen Vermork, Ende 1942 in einem Fehlschlag geendet. Eine Lehre daraus war, dass man künftige Unternehmen in norwegische Hände geben würde. Bereits vor Ort war die kleine Truppe rund um Poulson, die nun schon vier Monate in der Hardangervidda ausharrte. Am 16. Februar 1943 war es soweit: Weitere sechs norwegische SOE-Männer sprangen mit dem Fallschirm ab und stießen mit dem Vorauskommando zusammen. Damit waren es neun Guerillakrieger, die in Vemork eindringen sollten. Der Codename für die Operation lautete Gunnerside, nach der Jagdhütte eines SOE-Offiziers.

In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar 1943 näherten sich die Saboteure der Fabrik, die mittlerweile von einer Garnison, Luftabwehrbatterien, Minenfeldern und Scheinwerfern gesichert wurde. Die Norweger stiegen eine tiefe Schlucht hinab und dann wieder hinauf zu den Gleisen des Eisenbahnanschlusses. Hier hatten die Deutschen noch keine Minen ausgelegt. Während ein Teil der Gruppe sicherte, drang der 22jährige Kommandant Joachim Rønneberg mit drei Mann vor. Die Wachen bekamen nichts mit – aufgrund der strengen Kälte hielten sie nur kurz Umschau und gingen wieder in die Baracke. Über einen Kabelschacht gelangten die Norweger in den Produktionsraum und legten dort Sprengschätze mit Zeitzündern. Sie hatten genau zwei Minuten, um rauszukommen. Die folgende Explosion war von außen kaum hörbar. Aber als die Deutschen nachschauten, fanden sie die 18 Hochleistungszellen zerstört vor.

Es dauerte nur drei Monate, dann war die Anlage wieder aufgebaut. Daraufhin flog die US Air Force am 16. November 1943 kurzerhand einen Bombenangriff auf Vermok. 21 Zivilisten starben. Obwohl das Hauptziel nicht getroffen worden war, entschloss man sich auf deutscher Seite, die Fabrik aufzugeben und die restlichen 15 Tonnen schweres Wasser mitzunehmen. Der Transport führte per Fähre über den 400 Meter tiefen Tinnsjø-See. Genau hier schlugen die Saboteure ein letztes Mal zu: Sie schmuggelten eine Zeitbombe an Bord, die am 20. Februar 1944 bei der Überfahrt explodierte und die „Hydro“ sinken ließ. Vier deutsche Soldaten, aber auch 14 Einheimische ertranken. Die Saboteure hatten zuvor noch per Funk in London nachgefragt, ob das Ziel der Operation, „die Opfer lohnt, mit denen zu rechnen ist“. Die Antwort kam prompt:
„Nach Abwägung der Angelegenheit wurde entschieden, dass es sehr wichtig ist, das schwere Wasser zu vernichten. Hoffen, dass dies ohne zu große Verluste möglich sein wird.“
Erst nach der Kapitulation wurde deutlich, dass das Atomprogramm des 3. Reichs im Ansatz gescheitert war. Zu keinem Zeitpunkt war es gelungen, einen funktionierenden Reaktor in Betrieb zu nehmen. Schon 1942 hatte Reichsminister Albert Speer entschieden, Ressourcen in die Entwicklung von „Wunderwaffen“ wie Raketen umzulagern. Der Aufwand, den die USA 1942-1945 in das Manhattan-Projekt steckten, war konkurrenzlos und letztlich erfolgreich. Anders als ihre deutschen Kollegen hatten die US-Forscher auf Plutonium statt Uran gesetzt und sich für Graphit als Moderator entschieden. Der war einfacher zu beschaffen, als schweres Wasser. Die Zerstörung der Produktion war somit ein entscheidender Faktor.
Der Einsatz der Saboteure wurde Stoff von Kinofilmen (The Heroes of Telemark, 1965) und einer Fernsehserie (The Heavy Water War, 2015). Rønneberg, der am 21. Oktober 2018 verstorben ist, war der letzte Zeitzeuge. 2016 sagte er noch:
„Man muss für seine Freiheit kämpfen. Und für den Frieden. Man muss jeden Tag dafür kämpfen, um es zu behalten.“
HINWEIS: Gekürzte Version ist am 26. Februar 2018 in „Die Presse Sonntagszeitung erschienen“
https://diepresse.com/home/premium/5377951/Wie-Adolf-Hitlers-Atombombenplaene-durchkreuzt-wurden