Auch die Stasi jagte 1986 den Mörder des schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme und vermutete eine große Verschwörung. Wahrscheinlich war es das genaue Gegenteil.
Der Ministerpräsident war tot noch bevor er auf den Boden hinfiel. Ein Schuss aus einem Revolver hatte Olof Palme aus nächster Nähe getroffen, das Rückenmark durchtrennt und die Aorta zerfetzt. Warum der 59jährige Palme an jenem 28. Februar 1986 mitten im Zentrum Stockholms sterben musste, ist bis heute ungeklärt.
Verschiedenste Theorie kursieren: Vom Einzeltäter bis hin zum Komplott dunkler Mächte. Denn eines ist klar: Palme hatte viele Gegner – die USA, die er für den Vietnamkrieg und ihre Machtpolitik im Kalten Krieg kritisierte, das südafrikanische Apartheid-Regime, aber auch Waffenhändler, deren illegalen Deals Palme auf die Schliche gekommen sein soll. Vor allem aber war Palme eine Hassfigur im eigenen Land. Man nahm ihm seine kompromissbereite Haltung gegenüber dem Ostblock genauso übel, wie seine linke Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik.

Umso überraschender ist es aus heutiger Sicht, wie einfach es der Mörder hatte: Palme war an jenem Freitagabend mit seiner Frau ins Kino ausgegangen und hatte den Leibwächtern wiedermal frei gegeben. Das passte zum Lebensgefühl der schwedischen Nachkriegsdemokratie – eine Illusion, die brutal zerstört wurde.
Um 23.04 Uhr war „Die Gebrüder Mozart“ zu Ende und die Palmes machten sich auf den Heimweg. Anstatt die U-Bahn zu nehmen, traten sie einen zweieinhalb Kilometer langen „Spaziergang“ bei minus sieben Grad an. Einer belebten Straße folgend kamen die Palmes um 23.21 Uhr beim Ausstattungsgeschäfts „Dekorima“ vorbei. Dort wartete schon seit zwei Minuten der Killer.

Nach Aussagen von Zeugen gingen Palme und sein Mörder noch kurz nebeneinander, als ob sie sich an der Ecke diskret verabredet hatten. Wenn es wirklich so war, dann hatte man Palme in eine Falle gelockt. Denn plötzlich fasste ihn der Mörder an der Schulter, zog mit der anderen Hand die Waffe und drückte ab. Um ganz sicher zu gehen, benutzte er Spezialmunition, die schusssichere Westen durchschlagen kann. Gleichzeitig war der verwendete Magnum-Revolver die „falsche“ Wahl: Lang wie ein Spanferkel und sehr laut.
Und: Als der Killer im Anschluss nochmals feuerte, verriss ihm der Rückstoß die Hand. Das Projektil streifte Lisbet Palme am Rücken. Danach schlurfte der Killer noch unschlüssig am Tatort umher, ehe er in eine dunkle Seitengasse und dann über eine Treppe spurlos verschwand. Dass er auf dem glatten Boden mit Halbschuhen unterwegs war und eine hinderliche knielange Jacke trug, spricht ebenfalls nicht für „Professionalität“.

34 Jahre sind seitdem vergangen und noch immer ist eine „Palme-Gruppe“ dran: Mehr als 275 Regalmeter Akten sind angehäuft, rund 10.000 Zeugen und Hinweisgeber befragt. Zu den ersten Verdächtigen hatte sogar kurz ein „verrückter Österreicher“ gezählt, der in den Tagen vor dem Mord mit Drohungen gegen Palme aufgefallen war, aber nichts mit dem Mord zu tun hatte. Letztendlich verlief die Fahndung im Sand, weil gleich Beginn viele Pannen passiert waren.
Schauplatzwechsel zur Stasi-Unterlagenbehörde (BStU) in Berlin: Hier lagern die Erkenntnisse des „Sonderstab Palme-Mord“, den der DDR-Geheimdienst damals eingerichtet hatte. Die Dokumente verraten viel über die paranoide Weltsicht der Stasi.

So kam deren „Terrorabwehr“ am 19. März 1986 zum Schluss, dass die „Drahtzieher/Hintermänner in imperialistischen Geheimdiensten zu suchen sind“. Im Anschluss wurde gemutmaßt, warum Palme zur Zielscheibe geworden sei:
„Palmes Engagement für einen Nord-Süd-Dialog zwischen Entwicklungs- und Industrieländern, Schlichtungsbemühungen in internationalen Krisengebieten (z.B. Vermittlerrolle im Iran-Irak-Krieg), sein Eintreten für Nicaragua und Libyen sowie sein Einsatz für internationale Sanktionen gegen das Apartheid-Regime in Südafrika bildeten weitere Faktoren, für eine Gefährdung der persönlichen Sicherheit Palmes. Gegenwärtig werden operative Hinweise geprüft, die auf eine mögliche Beteiligung des israelischen Geheimdienstes ‚Mossad‘ bzw. ehemaliger Agenten des aufgelösten iranischen Geheimdienstes ‚SAVAK‘ am Mordanschlag gegen Palme hindeuten. In diesem Zusammenhang sind mögliche Querverbindungen zum südafrikanischen Geheimdienst ‚BOSS‘ zu beachten. Resultierend aus persönlichen Aktivitäten Palmes gegen das Apartheid-Regime der RSA (Eintreten für internationale Sanktionen; Palmes mögliche Wahl zum neuen UNO-Generalsekretär) und zur Unterstützung der südafrikanischen Befreiungsorganisation ‚ANC‘ und andere Gegner des Apartheid-Regimes sind bekannt).“
In Ost-Berlin war Palme geschätzt worden: 1987 hatte er als einer der wenigen westlichen Staatschef die DDR besucht, um über Kredite zu verhandeln. Von daher war man an einer Aufklärung interessiert und stellte Überprüfungen „aller aus Skandinavien anreisenden Personen“ an. Das waren rund 3.000 Reisende, die zwischen der Mordnacht und dem 9. März 1986 Fahrhäfen und den Flughafen Berlin-Schönefeld passiert hatten. Schließlich konnte man einen „operativ bedeutsamen Personenhinweis“ direkt an Minister Erich Mielke melden.
Am 3. März 1986 war der Exiliraner Amir Heidari aus Kopenhagen kommend gelandet und gleich anschließend nach West-Berlin weitergereist. Heidari war kein unbeschriebenes Blatt: Er war Kopf eines Netzwerks, das Flüchtlinge aus dem Iran nach Schweden, in den USA und nach Kanada schleuste. Schon Anfang November 1985, wenige Monate vor dem Palme-Mord, hatte die Stasi den „inoffiziellen Mitarbeiter“ mit dem Decknamen „Bernd“ ins schwedische Uppsala geschickt, wo er Heidaris Adresse auskundschaftete. Der Spitzel rief auch von einer Telefonzelle aus an und gab an, im Namen eines Iraners zu fragen, „wie seine Angelegenheit gediehen sei“.
Als dann das Phantombild des Palme-Killers veröffentlicht wurde, stellte man eine „starke Ähnlichkeit“ mit Heidari fest. Der Täter war auf ca. 180 cm geschätzt worden, der Iraner war 178 cm groß. Richtig zu denken gaben der Stasi aber Heidaris Verbindungen in West-Berlin. Er sei Mitglied der „Front iranischer Nationalisten“, die von Ex-Agenten des gestürzten Schahs durchsetzt war:
„Weitere Hinweise liegen vor, dass diese Gruppierung Verbindungen zu Geheimdiensten der BRD und der USA unterhält und von diesen unterstützt wird.“
Von daher war eine „mögliche Motivation“ gegeben: Palme hatte gegenüber dem 1979 im Iran an die Macht gekommenen Mullah-Regime eine Vermittlerrolle eingenommen. Diese Haltung stand im Widerspruch zu den Bestrebungen der Exiliraner – mit etwaigen tödlichen Konsequenzen.
Die Spekulationen endeten hier nicht: Hinter der „Front iranischer Nationalisten“ könnten westliche Partner stehen. In dieses Bild schienen zeitnahe Drohungen zu passen: So hatte ein Anrufer bei der österreichischen Botschaft in Paris einen Anschlag auf Bruno Kreisky angekündigt und angemerkt, dass „dieselbe Organisation, die Palme getötet hat“, verantwortlich wäre. Für die Stasi zeichnete sich „ein imperialistisches Szenario zur sog. Neutralisierung“ (Ermordung) von Politikern ab, die wie Palme für Abrüstung und Entspannung standen.
Letztendlich war es nur eine von vielen falschen Fährten: Eine Untersuchung stellte fest, dass Heidaris Foto und das Phantombild „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ doch nicht übereinstimmten. Dafür wurde dieser im Herbst 1986 in Schweden ein erstes Mal wegen Schlepperei verhaftet werden. Heidari blieb weiter aktiv. Erst 2010 wurde er ausgewiesen, kam im Iran in Haft und soll sich mittlerweile wieder nach Europa durchgeschlagen haben.
Was den Palme-Mord betrifft, so haben sich zuletzt Hinweise verdichtet, die Verschwörungstheorien Wind aus den Segeln nehmen. Zu den Hauptverdächtigen zählt nun der sogenannte „Skandia-Mann„: Stig Engström, ein Werbegrafiker, hatte noch kurz vor dem Mord in unmittelbarer Nähe des Tatorts Überstunden geschoben. Er war in einem Schützenclub aktiv und hatte über einen Freund Zugang zu einem Exemplar der mutmaßlichen Tatwaffe. Seinen Hass auf den Ministerpräsidenten bekundete Engström immer wieder öffentlich. 2000 beging er Selbstmord.
Es sieht nach einer Impulstat aus, begangen von einem Nobody, der eine Chance erkannt und genutzt hatte. Schon 1988 war der Journalist Stig Larsson, später bekannt als Autor der Millennium-Trilogie, zum Schluss gekommen: „Wir suchen einen mittelalten, isoliert lebenden Grübler mit Zugang zu Waffen, der in der Nähe des Tatorts lebt“ – oder einen Grund hatte, an jenem Februarabend dort unterwegs zu sein.
HINWEIS: Gekürzte Version ist am 16. Februar 2020 in Die Presse am Sonntag erschienen.