De Gaulle muss sterben: Das Attentat von Petit-Clamart

Vor 55 Jahren, am 22. August 1962, wäre Präsident Charles de Gaulle beinahe einem Mordanschlag zum Opfer gefallen. Die Organisation de l’armée secrète (OAS) trachtete ihm nach dem Leben, weil er Algerien in die Unabhängigkeit entlassen wollte. Nur durch Zufall überlebte de Gaulle den Feuerüberfall in einem Pariser Vorort. Die nachfolgende Fahndung nach den OAS-Leuten erstreckte sich bis nach Österreich, wie aus staatspolizeilichen Akten hervorgeht. Die Ereignisse inspirierten Frederick Forsyth zu seinem Bestseller The Day of the Jackal (1971), in dem auch Wien eine Rolle spielt. Und der in Österreich aufgewachsene Fred Zinnemann sollte den Stoff 1973 verfilmen. Eine der ersten Szenen, gleich nach der Rekonstruktion des de Gaulle-Attentats, spielt in der Leopoldstadt – im Schatten des Riesenrads.

Es war die „perfekte“ Falle: 11 Mann, darunter ausgewiesene Scharfschützen, lagen bereit, um Charles de Gaulle zu töten. Wäre tatsächlich alles „glatt“ gegangen, hätte der französische Präsident keine Chance gehabt, zu entkommen. Die Attentäter hatten sich aufgeteilt: An der Avenue de la Liberation im Pariser Vorort Petit-Clamart war zunächst ein Estafette mit drei Insassen positioniert. Diese sollten de Gaulles Konvoi mit Maschinenpistolen unter Feuer nehmen. Wenige Meter weiter befand sich eine zweite Schützengruppe in einem gelben Lieferwagen. Im entscheidenden Moment sollte dieser aus einer Nebenstraße hervorstoßen, um der Präsidentenlimousine den Weg abzuschneiden. De Gaulle würde anschließend im Kreuzfeuer sterben. Doch es kam alles anders.

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Charles de Gaulle im Jahr 1959 (Quelle: Wikimedia Commons)

Um 20.10 Uhr winkte der vorneweg platzierte Anführer des Mordkommandos, Oberstleutnant Jean-Bastien Thiry, mit einer Zeitung. Es war das Signal, dass sich der Präsidentenkonvoi näherte. Doch aufgrund der bereits einbrechenden Dunkelheit bekamen die ersten drei Schützen davon nichts mit. Sie erkannten die rasch näherkommenden zwei Motorradpolizisten, de Gaulles Citroen DS 19 und das Begleitfahrzeug erst, als diese nur mehr 60 Meter entfernt waren.

Trotzdem wurden zwei Salven abgefeuert, die den Konvoi aber weder verlangsamten noch vom Weg abbrachten. Dem Fahrer des „Blockadewagens“ blieb nur die Wahl, den Citroen zu rammen oder diesen passieren zu lassen. Er entschied sich für letzteres und nahm für einige Zeit die Verfolgung auf. Doch das Begleitfahrzeug sowie die Motorradpolizisten schoben sich dazwischen und nahmen das Schussfeld. Als der Abstand immer größer wurde, gaben die Attentäter schließlich auf – wie nahe sie ihrem Ziel gekommen waren, zeigte sich danach.

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Ein Citroen DS 19 von 1957 (Quelle: Wikimedia Commons/Charles01)

„Bereit, an diesem Tag zu sterben“

187 Schuss waren abgegeben worden. 14 Projektile hatten die Karosserie von de Gaulles Citroen durchschlagen. Das Rückfenster war zersprungen, ein Vorderreifen geplatzt und die Tankklappe durchlöchert. Aber Chauffeur Francois Maroux  hatte es geschafft, das schleudernde Auto unter Kontrolle zu behalten und zu beschleunigen. Alle Insassen – de Gaulle, seine Ehefrau Yvonne und sein Schwiegersohn, Oberst de Boissieu – blieben unverletzt. Nur als der General später Glassplitter von seinem Mantel schüttelte, fügte er sich einen Kratzer zu.

Am Fahrziel, dem Flughafen Orly, angekommen, tat de Gaulle so, als wäre nichts geschehen. Er nahm sich die Zeit, um die Ehrengarde abzuschreiten. Nur später, an Bord des Flugzeugs, umarmte er seinen Schwiegersohn. Dieser hatte den General zuvor angeherrscht, endlich Deckung zu nehmen. Anschließend orderte de Gaulle noch ein Bier für seine Frau und Whisky für sich selbst, was ebenso untypisch für ihn war.

Der Anschlag von Petit-Clamart war der gefährlichste von insgesamt 31 Versuchen, de Gaulle zu töten. Ein „Maulwurf“ im Elysee-Palast hatte die Attentäter über die Fahrroute des Präsidenten an diesem Abend informiert. Laut einem der letzten Überlebenden des Kommandos, des ungarisch-stämmigen Legionärs Lajos Marton, waren sie alle keine Selbstmordattentäter, „aber bereit, an diesem Tag zu sterben“.

Woher rührte der Hass auf den überlebensgroßen de Gaulle? Es war dessen Entscheidung, die Unabhängigkeit Algeriens zu akzeptieren – dagegen bildete sich im Juni 1961 eine Terrorgruppe aus abtrünnigen Soldaten und französischstämmigen Siedlern (pied noirs). In Anspielung auf eine Formation der Resistance nannte man sich Organisation de l’armée secrète (OAS).

Die blutige Handschrift der OAS

Was die OAS einzigartig machte, war, dass sie von ehemaligen Offizieren geleitet wurde, die sich mit dem Abstieg in die Illegalität in „Guerilla-Terroristen“ verwandelten: Sie adaptierten die Organisationsformen und Taktiken der Rebellen, die sie noch kurz zuvor selbst bekämpft hatten. Die ersten Anschläge wurden mit dem damals gerade aufgekommenen Plastiksprengstoff begangen.

Ab Herbst 1961 wurden Deserteure von den Fallschirmjägern und der Fremdenlegion, junge pied noirs und sogar einige Muslime in kleine, mobile und schwer bewaffnete „Delta“-Kommandogruppen eingeteilt. Diese unternahmen Attentate auf Polizisten und loyale Militärs, den Generalsekretär der Sozialistischen Partei in Algier und andere politisch Gemäßigte. Hauptopfer aber waren muslimische Passanten, die völlig willkürlich getötet wurden. Laut Angaben des französischen Militärs forderte der OAS-Terrorismus alleine zwischen März und Mai 1962 1.658 Opfer. 58 davon waren Soldaten, 104 Europäer und der überwiegende Rest Muslime.

Dennoch blieb die Vorgangsweise der OAS von Fehlschlägen gekennzeichnet: Die algerische Front de Libération Nationale (FLN) stieg auf die Provokationen nicht ein und verhinderte, dass die muslimische Bevölkerung an den Siedlern rächte und so den Abzug der französischen Herrschaft aufs Spiel setzte. Gleichzeitig scheiterte das Bestreben der OAS, die pied noirs zum Aufstand anzuregen. Und schließlich ruinierte die OAS mit Attentaten gegen loyale gaullistische Offiziere ihr Verhältnis zur Algerienarmee, die nun die toten Kameraden rächen wollte.

Ihre schwerste Fehlkalkulation beging die OAS, als sie ihren Terror 1961 nach Frankreich exportierte. Im Spiegel hieß es:

„Bald detonierten in Paris und Marseilles, von Lille bis Bordeaux die Plastikbomben der OAS; wie in Algerien schleuderten die Terroristen ihre Handgranaten wahllos in Kinos, Banken und Straßencafés. ‚Chicago’-Kommandos der Extremisten schossen aus fahrenden Autos MG-Garben auf friedliche Passanten.“

Zu den Opfern zählten die sozialistischen Bürgermeister von Evian und Fort de L’Eau. Als im Februar 1962 ein Sprengsatz vor dem Pariser Haus des Schriftstellers Andre Malraux explodierte und dabei ein vierjähriges Kind schwer verletzt wurde, kippte die öffentliche Meinung endgültig gegen die OAS. Aber es war das Bestreben, den „Verräter“ de Gaulle zu ermorden, das schließlich das Ende besiegeln sollte.

Auf die Schüsse in Petit-Clamart folgte die bis dahin größte Fahndungsaktion der französischen Geschichte. Rasch gab es Ereignisse. Zwei Gendarmen hatten drei Insassen eines verdächtigen Renaults überprüft, was weitere Verhaftungen nach sich zu zog. Am 17. September 1962 wurde der „Kopf“ des Unternehmens, Bastien Thiry, in seiner Villa festgenommen. Wenige Monate starb er unter den Kugeln eines Erschießungskommandos.

Den militärischen Chef der OAS, Antoine Argoud, ließ Innenminister Roger Frey im Zuge der „Operation Tirolerhut“ am 25. Februar 1963 mitten im Münchner Faschingstrubel aus dem Hotel Eden-Wolff entführen. Die Festnahmen lähmten die OAS und leiteten ihren Zerfall ein, der sich bis Mitte der 1960er Jahre hinzog.

 Alarm in Österreich

Während zahlreiche OAS-Flüchtige in den faschistischen Staaten Portugal und Spanien unterkamen, waren einige andere im bayrischen Raum, in der Schweiz und in Italien aktiv. Auch in Österreich gab es immer wieder Alarm: Am 5. Dezember 1961 informierte das Außenministerium das Innenministerium, dass man „aus verlässlicher Quelle“ erfahren habe, „dass die OAS auch in Österreich und der Schweiz Formationen aufgestellt hat“. Es kursierten Gerüchte, dass die OAS eine „Außenstelle“ in Tirol unterhalte. Innenminister Josef Afritsch (SPÖ) gab bekannt, dass entsprechende Aufenthalts- und Einreiseverbote verhängt würden, berichtete die Presse:

„Sollten OAS-Agenten sich in Österreich aufhalten, müssten sie damit rechnen, sofort über die Grenze abgeschoben zu werden.“

Die Grenzorgane wappneten sich mit einer entsprechenden Namensliste, die von der französischen Botschaft übermittelt worden war.

Anfang 1962 stieg der OAS-Mann Philippe de Masseei in einem Innsbrucker Hotel ab. Zuvor hatte er in Italien im Haus eines Abgeordneten des neofaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) an einer Zusammenkunft teilgenommen. Ein anderes Mal, im Sommer 1962, forschte man auf Basis der übermittelten Informationen den OAS-Mann Marius Zoellin samt Freundin und drei Kindern in niederösterreichischen Leobendorf aus. Gegen Zoellin wurde ein unbefristetes Aufenthaltsverbot erlassen und er verließ Österreich am 1. Dezember 1962, „angeblich in Richtung Genf“.

Mitte 1964 wurde in Tirol intensiv nach dem OAS-Oberst Yves Godard gefahndet: „Da Godard Priesterkleidung benützt, wurden die Erhebungen auf Klöster, Pfarreien und Sanatorien erstreckt, wobei nach einem ‚falschen Priester‘ gefahndet wurde.“ Doch Ende August 1964 gab man Entwarnung: Der flüchtige Oberst war mit einem „wiederholt in Erscheinung getretenen Betrüger“ verwechselt worden.

Im Jahr darauf stieg noch einmal die Nervosität: Es wurde befürchtet, dass Georges Wattin, einer der schießwütigsten Killer der OAS, im Österreich untertauchen könnte. Wattin, der „Hinkebein“ genannt wurde, hatte in Petit-Clamart das Magazin seiner Maschinenpistole auf das davonbrausende Auto des Generals leergeschossen. Am 15. Jänner 1965 gab das Außenministerium Entwarnung. Wattin sei in der Schweiz verhaftetet worden, nachdem die französische Regierung „dahingehend interveniert“ hatte, dass er „in sicherem Gewahrsam gehalten werde“.

Im Schatten des Riesenrads

Nachhall hat diese spannungsgeladene Zeit in der Literatur und im Film gefunden: Der britische Journalist und langjährige Agent des MI6, Frederick Forsyth, malte sich Österreich als Rückzugsort der OAS aus. In The Day of the Jakal (1971) beauftragen die letzten drei verbliebenen OAS-Führer einen Auftragskiller damit, dass zu vollbringen, was sie nicht geschafft hatten: de Gaulle zu ermorden. Geheimer Treffpunkt ist die fiktive Wiener Pension „Kleist“ in der „Brucknerallee“. Der Killer, der nur unter seinem Decknamen „Schakal“ geführt wird, versichert:

„Es gibt auf der ganzen Welt keinen einzigen Mann, der gegen die Kugeln eines Mörders gefeit wäre.“

Er schafft beinahe das Unmögliche und wird im letzten Augenblick von eben jenem Kommissar erschossen, der sich die ganze Zeit auf seine Fersen geheftet hatte.

1973 verfilmte der gebürtige Österreicher Fred Zinnemann den Roman unter dem gleichnamigen Titel. Quasi als Hommage an „Der dritte Mann“ und andere Wiener Spionagemythen betritt der von Edward Fox verkörperte „Schakal“ die Pension, wo seine Auftraggeber auf ihn warten – eine Adresse in der Leopoldstadt im Schatten des Riesenrads.

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Heutige Ansicht des Wiener Drehorts für „The Day of the Jackal“ (Quelle: Autor)

Quelle Beitragsbild: Fotografie von Dalmas, in: Christian Plume, Pierre Demaret, Target: De Gaulle (London 1976).