2016 erregten die Journalisten Dan Raviv und Yossi Melman große Aufmerksamkeit: In einem Artikel für eine israelische Tageszeitung meldeten sie, Otto Skorzeny habe einen Auftragsmord für den Nachrichtendienst Mossad verübt. Ausgerechnet Hitlers bevorzugter Kommandosoldat und zeitlebens überzeugter Nationalsozialist habe den deutschen Manager Heinz Krug „verschwinden“ lassen – weil dieser das gegen Israel gerichtete ägyptische Raketenprogramm belieferte. Am 11. September 2017 jährt sich dieser nach wie vor ungeklärte Kriminalfall zum 55. Mal. Ein guter Anlass, der These von Raviv/Melman auf den Grund zu gehen.
Zunächst einmal ist Skorzenys angebliche Rekrutierung durch den Mossad nicht „neu“, sondern seit Jahrzehnten ein Thema in der einschlägigen Literatur. Auch wenn es hierzu verschiedene Versionen gibt, so herrscht in einem Punkt Klarheit: Der Mossad wollte über Skorzeny an Informationen zum ägyptischen Raketenprogramm gelangen, um es zu sabotieren („Operation Damokles“). Zum ersten Mal berichtete darüber der Historiker Amnon Kava 1989 in der israelischen Fachzeitschrift für Waffen und Abwehr: Skorzeny habe sich aus Angst, so wie Eichmann nach Israel entführt zu werden, zur Kooperation bereit erklärt.
1991 erklärten Ian Black und Benny Morris in Israel’s Secret Wars, dass Skorzeny im Frühjahr 1963 von Mossad-Offizieren in Spanien aufgesucht worden sei. 1995 äußerte sich der Mossad-Direktor Meir Amit zu dem Fall. Skorzeny sei als Agent angeheuert worden; er stellte die Verbindung zu einem gewissen „Valentino“ her, dem Sicherheitschef der deutschen Wissenschaftler in Kairo:
„Nassers Waffenprojekt gegen Israel, so fand der Mossad dank des Nazis heraus, war purer Bluff.“
Laut Tom Segevs Wiesenthal-Biografie (2010) war der Agent, der den Kontakt zu Skorzeny persönlich herstellte, Rafael Meidan:
„Der Weg, der ihn zu dem legendären Waffen-SS-Mann führte, war verschlungen, wie üblich in der Welt der Geheimdienste. Er führte über Skorzenys zweite Frau. Diese kannte einen jüdischen Geschäftsmann, der in Finnland saß und Israel regelmäßig unterstützte. Es war nicht schwer, Skorzenys Einverständnis zu erhalten, mit Israel zu kooperieren. Denn zuvor hatte er bereits im Dienst der Amerikaner gearbeitet.“
Folgt man Segev, dann knüpfte Skorzeny seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit an die schriftliche Zusicherung, dass er dem NS-Verbrecher Adolf Eichmann keine Fluchthilfe geleistet habe. Außerdem wollte er, dass Simon Wiesenthal ihn von seiner Fahndungsliste streiche und sich für eine Aufhebung des österreichischen Haftbefehls einsetze: „Er habe Geschäfte in Wien und auch eine Tochter, die er besuchen wolle, erklärte er.“ Wiesenthal entschied, die Offerte zurückzuweisen: Skorzeny habe sich trotzdem bereiterklärt, „im Dienste des Mossad zu arbeiten – wie Wiesenthal auch“.
Wieder eine andere Version haben Michael Bar-Zohar und Nissim Mishal 2014 geliefert: An einem Augusttag 1963 wurden zwei Männer im Madrider Büro von Skorzeny vorstellig. Sie stellten sich als NATO-Nachrichtendienstoffiziere vor, kamen aber bald zur Sache: In Wirklichkeit seien sie vom Mossad. Laut Zohar/Mishal handelte es sich um den damaligen Chef der BRD-Station des Mossad, Rafi Eitan, und den erfahrenen Agenten Avraham Ahituv. Beide baten Skorzeny um Hilfe:
„Wir wissen, dass sie gute Kontakte in Ägypten haben.“
Als Gegenleistung offerierten die Israelis Skorzeny „Freiheit von der Angst“, eine Garantie des Staates Israel, dass er künftig keinerlei Verfolgung oder Gewalt zu befürchten habe. Skorzeny soll eingewilligt haben. In den folgenden Monaten besorgte er über einen Kontaktmann „unschätzbare“ Informationen zu den Aktivitäten der Wissenschaftler: Adressen, Berichte über die Arbeitsfortschritte, Blaupausen der Raketen sowie Meldungen über das Scheitern der Konstruktion des Leitsystems.
„Sieger“ und „Eroberer“
In Ägypten hatte es schon vor der Machtübernahme von Oberst Gamal Abd el-Nasser 1954 eine starke deutsche Präsenz gegeben. Nasser trachtete, Ägypten zur Führungsmacht der arabischen Welt zu machen. Zwecks Modernisierung der Streitkräfte waren bereits Anfang der 1950er Jahre unter König Faruk I. deutsche Experten – ehemalige Wehrmachts- und Waffen-SS-Offiziere – ins Land geholt worden. Die Organisation Gehlen (später Bundesnachrichtendienst) vermittelte 1952 auf Bitte der CIA die Dienste Skorzenys beim Aufbau des Sicherheits- und Geheimdienstapparats.
Als Konsequenz der militärischen Auseinandersetzungen mit Israel während der Suezkrise 1956 hatte Nasser den Schluss gezogen, dass der Aufbau eines Rüstungsprogramms, insbesondere auf dem Gebiet der Raketentechnik, die Möglichkeit bot, ein Gleichgewicht herzustellen. Auch hier wurde auf deutsche Rüstungsexperten zurückgegriffen. Über zwei Tarnfirmen des in der Schweiz angesiedelten Waffen- und Rohstoffhändlers Hassan Sayed Kamil – Mechanical Corporation (Meco) und Maschinen-Turbinen und Pumpen-AG (MTP-AG) – wurden bis zu 600 Fachkräfte rekrutiert.
In den Militärfabriken Nr. 36 und Nr. 135 bei Heluan, 30 Kilometer südlich von Kairo, wurden zwei überschallschnelle Düsenjäger (HA 200 und HA 300) entwickelt. Das Triebwerk der HA 300 wurde im Werk 135 von der „Gruppe Brandner“, die sich hauptsächlich aus Österreichern und Ostdeutschen zusammensetzte, hergestellt. Die Leitung hatte seit 1960 ein gebürtiger Wiener inne: Ferdinand Brandner, ab 1932 illegales NSDAP-Mitglied und später SA-Obersturmführer.
Die Militärfabrik 333 im nördlichen Kairoer Vorort Heliopolis, nahe dem Wohnsitz Nassers, beherbergte das Herzstück des Rüstungsprogramms, die Raketenentwicklung: Hier wurden zwei Typen gefertigt, die „El-Kahir“ („Eroberer“) mit einer Reichweite von 560 Kilometern und die „El-Safir“ („Sieger“) mit einer Reichweite von 280 Kilometern. Unter den maximal 20 deutschen Forschern, die hier eingesetzt waren, hatten einige schon am V2-Raketenprogramm des Dritten Reichs in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde mitgewirkt. Die Mehrzahl stammte vom Stuttgarter Forschungsinstitut für Physik der Strahlantriebe (FPS). Zwecks Materialnachschub für die Raketenforscher in Ägypten gründete der ehemalige FPS-Geschäftsführer Heinz Krug die Handelsfirma Intra in München.
Der rätselhafte Fall Krug
Für die Spitzen der israelischen Politik und insbesondere Mossad-Chef Isser Harel war längst eine existenzielle Bedrohung Israels gegeben, die umgehendes Handeln erforderte. Man versuchte zunächst, die Rüstungsforscher mit Drohbriefen zur freiwilligen Aufgabe zu bewegen. Als dies nichts nutzte, wurde zu härteren Maßnahmen gegriffen: Am 7. Juli 1962 stürzte ein zweimotoriges Charterflugzeug des Meco-Chefs Kamil aus ungeklärter Ursache bei Riesenbeck in Westfalen ab. Kamil hatte allerdings im letzten Augenblick umdisponiert, sodass nur seine Gattin Helene, Herzogin zu Mecklenburg, die Maschine bestieg und beim Absturz den Tod fand.

Am 11. September 1962 wurde der 49-jährige Intra-Geschäftsführer Krug entführt und blieb verschwunden. Er hatte um 10.30 Uhr sein Büro in München in Begleitung eines „Orientalen“ verlassen und wollte angeblich zwei Stunden später wiederkommen. Einzige Spur war Krugs Mercedes, den die Polizei zwei Tage danach in der Gollierstraße 19 [alternativ wird der Lenbachplatz genannt] sicherstellte. Unterlagen, Ausweis und Geldbörse waren im Wagen zurückgelassen worden. Drei Tage nach dem Verschwinden Krugs erhielt die Familie einen dicken Briefumschlag per Post. Weil die Gattin Krugs den Absender nicht kannte, rief sie die Polizei. „Es war eine Briefbombe“, erinnerte sich die Tochter.

Laut Ermittlungen der bayerischen Polizei hatte Krug am Abend des 10. September 1962 einen Anruf erhalten, wonach ein „Mister Saleh“ um eine Unterredung bitte und sich auf ein Schreiben eines mit Krug befreundeten ägyptischen Offiziers berufe. Obgleich Krug nach einem ersten Treffen eine Fälschung auffiel, habe er eingewilligt, diesen „Saleh“ nochmals zu sehen:
„Am helllichten Tag kann ja nichts passieren.“
Mit diesem mysteriösen Mann soll er dann am Vormittag des 11. September sein Büro verlassen haben, um „auffallend eilig“ im Mercedes davonzufahren. Danach wurde Krug nie wieder lebend gesehen. Tatsächlich war ein Kaher Saleh seit dem Tag von Krugs Verschwinden nicht mehr im Hotel Ambassador aufgetaucht, wie Interpol in einer Fernschrift informierte.
In weiterer Folge kamen Vermutungen auf, Krug sei vom ägyptischen Geheimdienst entführt worden, weil er seine Firma an eine israelisch-italienische Gruppe habe verkaufen wollen. Laut anderen Gerüchten war Krug von Israel mit 700.000 Franken abgeworben worden.

„Der beste Agent“
Laut jüngsten Enthüllungen von Yossi Melman und Dan Raviv soll Skorzeny Krug im Auftrag des Mossad ermordet haben. Zuvor soll Skorzeny Anfang 1962 in einer filmreifen Szene von zwei Mossadleuten, die sich als deutsches Touristenpaar tarnten, ein Angebot erhalten haben: „Our offer to you is just for you to help us.“ An Geld war Skorzeny nicht interessiert, er wollte aber von Wiesenthals Kriegsverbrecherliste gestrichen werden, eine Art „Lebensversicherung“ für ihn selbst. Ein österreichischer Jude namens Kurt Weisman, der dem Holocaust entronnen war, indem er nach Palästina emigrierte, soll Skorzenys Führungsoffizier gewesen sein, während sich unter den Leitern des Agententeams der spätere Premierminister Yitzak Shamir befand.
Die Indienstnahme Skorzenys habe sich bezahlt gemacht: Er flog wieder nach Ägypten, erstellte eine Liste der deutschen Wissenschaftler und ihrer Adressen. Außerdem identifizierte er die Tarnunternehmen in Westeuropa, die den Nachschub für das Raketenprogramm sicherstellten – unter anderem Krugs Firma in München. Krug hatte bereits Drohungen erhalten und soll sich deswegen an Skorzeny gewandt haben, dem er vertraute. Gemeinsam seien die beiden an jenem 11. September 1962 ins Auto gestiegen, um sich an einem sicheren Ort zu unterhalten. In einem Wald in der Nähe von München soll Krug dann von Skorzeny erschossen worden sein. Die Leiche wurde anschließend von anderen Mitgliedern des Mordkommandos mit Kalk bestreut und vergraben.
Zwecks Ablenkung wurden Gerüchte gestreut, die den ägyptischen Geheimdienst mit dem Verschwinden Krugs in Verbindung brachten. Der Mossad soll mit Skorzenys Performance zufrieden gewesen sein. Für den Führungsoffizier, der Skorzeny die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem zeigte und dessen Begräbnis besuchte, soll der „hassenswerte Mann“ der beste Agent gewesen sein, den er je betreute.

Das Ende für das Raketenprogramm
Melman und Raviv behaupten, dass Skorzeny auch in die nächsten Schläge von „Operation Damocles“ involviert war: Am 27. November 1962 explodierte eine Bombe, als die Sekretärin des Raketenforschers Wolfgang Pilz, Hannelore Wende, einen in Hamburg aufgegebenen Luftpostbrief öffnete. Nur einen Tag danach detonierte eine weitere Paketbombe in der Poststelle im Werk 333 in Heliopolis: Fünf ägyptische Arbeiter kamen ums Leben, zehn wurden verletzt. Der nächste Schauplatz war Westeuropa: In Lörrach (Baden-Württemberg) entkam der Elektronikspezialist Hans Kleinwächter am 20. Februar 1963 einem Schussattentat.
Die Attentatswelle hatte schließlich im Frühjahr 1964 eine Rückkehrwelle aus Ägypten in Gang gesetzt: 100 Wissenschaftler verließen Kairo. Die Beziehungen zum Regime wurden immer angespannter, als Löhne nicht mehr bezahlt wurden oder versucht wurde, die Abreise zu verhindern. Als letzter namhafter Raketenwissenschaftler entschloss sich Wolfgang Pilz 1965 zum Rückzug. Für den Niedergang war nicht vorrangig die Sabotage durch den Mossad verantwortlich. Vielmehr hatte das Entwicklungsland Ägypten niemals die notwendige industrielle Basis besessen. Ebenso gravierend wirkten sich technische und personelle Mängel sowie Budgetüberschreitungen aus. Im Sechs-Tage-Krieg zwischen Israel und Ägypten 1967 spielten die Raketen keinerlei Rolle.
Neue Ermittlungen
Bleibt abschließend die Frage, wie glaubwürdig die Behauptungen von Melman/Raviv sind. Die Journalisten berufen sich auf anonyme Quellen des Mossad. Allerdings bestätigt Rafi Eitan, den Agenten Skorzeny geführt zu haben, ohne weitere Details zu nennen. Problematisch ist Melmans/Ravivs Einordung Krugs als Raketenwissenschaftler. Tatsächlich war Krug ein Jurist und einer der Nachschubmanager des Rüstungsprogramms. Nach der Aktenlage wurde gegen Skorzeny damals nicht ermittelt. Solange keine Belege vorgelegt werden, sollten die Behauptungen rund um Skorzenys angeblichen Auftragsmord mit Vorbehalt betrachtet werden.
Das Medienecho rund um die Behauptungen von Melman/Raviv führte dazu, dass sich die Staatsanwaltschaft München dem „Cold Case“ Krug annahm, Anfang Juli 2017 wurde bekannt, dass die Unterlagen an die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe weitergegeben wurden. Dort wird aktuell geprüft, ob der Fall übernommen wird.
Mehr Information zu Otto Skorzeny und anderen Mythen rund um seine Person findet sich in meinem Artikel für die aktuellen Ausgabe von JIPSS (Nr. 1/2017).
Artikel zum Download: pdf
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Mehr Information zum Thema Operation Damokles:
Agenten, Wissenschaftler und „Todesstrahlen”: Zur Rolle österreichischer Akteure in Nassers Rüstungsprogramm (1958-1969), in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies, Vol. 8, No. 2/2014, 44 –72. pdf
Ein Gedanke zu „„Am helllichten Tag kann ja nichts passieren“: Das rätselhafte Verschwinden des Heinz Krug“
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