„Wenn’s aus is, ist’s halt aus“ : Zur Palmers-Entführung vor 40 Jahren

Am 9. November 1977 wurde Walter Michael Palmers, einer der wichtigsten Textilindustriellen Österreichs, von Angehörigen der Bewegung 2. Juni auf offener Straße in Wien entführt und vier Tage lang gefangen gehalten. Der aus der Bundesrepublik Deutschland (BRD) stammenden linksterroristischen Gruppe ging es um „Geldbeschaffung“ für den Wiederaufbau ihrer Strukturen. Die österreichischen Studenten Thomas Gratt, Othmar Keplinger und Reinhard Pitsch  leisteten Unterstützung, wobei nur Gratt voll integriert wurde. Es gelang, ein Lösegeld von rund 31 Millionen Schilling zu erpressen. Danach konnten sich die Mitglieder der Bewegung 2. Juni  absetzen, während die österreichischen Mithelfer festgenommen wurden. All das ereignete sich kurz nach dem „Deutschen Herbst“ , dem symbolischen Höhepunkt des Linksterrorismus in der BRD, was kurzfristig Befürchtungen nährte, die Gewalt sei auf Österreich übergesprungen.

Der Firmenchef war stets erster und letzter in der Zentrale. So auch an Mittwochabend, 9. November 1977: Wie gewohnt setzte sich der 74jährige Walter Michael Palmers gegen 20 Uhr ans Steuer seines VW Golf setzte, um sich vom Büro in der Lehargasse 9-11 in Wien-Mariahilf auf den Weg in seine Villa in der Hockegassse (Wien-Währing) zu machen. „Ich fahre jetzt weg und komme gleich nach Hause“, sagte er noch seiner Frau Gunilla am Telefon. In der Öffentlichkeit war Palmers als „Strumpf“- oder „Wäschekönig“ bekannt. Der „Kurier“ bezeichnete ihn als den „bekannten Unbekannten“:

„Die Familie ist extrem öffentlichkeitsscheu und hat immer schon jede Auskunft verweigert. Als der Verband österreichischer Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels seine Spitzenfunktionäre in der Verbandszeitung im Bild vorstellen wollte, musste er auf Walter Palmers verzichten. Der Präsident und Inhaber der Großen Silbernen Ehrenmedaille der Wiener Handelskammer wollte kein Foto von sich veröffentlicht sehen.“

Für die Gründe der Diskretion „interessierte sich niemand“, dabei erklärt sich diese aus der teils tragischen Familiengeschichte.

Weil Palmers an besagtem Mittwoch geschäftlich nach Baden bei Wien gefahren war, hatte er sich verspätet. Erst gegen 20.30 Uhr kam er in der Hockegasse an und parkte seinen PKW „etwa 50 m“ schräg gegenüber seiner Villa, weil der übliche Stellplatz bereits besetzt war. In der Dunkelheit machte sich Palmers daran, den PKW zu versperren. In diesem Moment seien drei Personen – eine links, eine von rechts und eine von rückwärts – über ihn „hergefallen“:

„Ich wollte Hilfe rufen, aber ich habe nur mehr ‚Hi…‘ herausgebracht, dann wurde mir der Mund zugehalten.“

Die maskierten Täter setzten ihrem Opfer eine schwarz-lackierte Skibrille auf und hievten es auf den Rücksitz eines Peugeot, den ein vierter Täter auf die Höhe von Palmers VW hatte rollen lassen:

„Sie zerrten mich direkt gegenüber zu einem dort parkenden PKW von heller Farbe, viertürig, und drängten mich auf den rückwärtigen Sitz. […] Die Täter sind sofort gestartet und zwar in Richtung stadtwärts und dürften nach links in die Wurzingergasse hinuntergefahren sein. […] Nach etwa 100 Metern Fahrt fragte mich eine Frau, die reichsdeutsch[en] Akzent sprach, ob ich krank sei, was ich bejahte, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Daraufhin wollte sie mir eine Beruhigungsspritze geben, was ich aber mit dem Hinweis ablehnte, dass ich Injektionen nicht vertragen würde.“

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Hockeggasse in Wien-Währing (Foto: Autor)

Palmers konnte niemanden erkennen, weil alle Täter „Roger Staub-Mützen“ trugen, also eine Sturmhaube mit Augenschlitzen, benannt nach ihrem Designer, dem Schweizer Skirennfahrer Roger Staub. Palmers gab an, zunächst „gar nicht geschockt“ gewesen zu sein, weil er nicht wusste, „was die jungen Leute von mir wollten“. Ihm wurde aber bald klar, „dass es sich um einen erpresserische Entführung handeln musste“.  Nach wenigen Minuten Fahrt wechselten die Entführer in der Roggendorfgasse das Auto. Man stieg in einen VW-Kastenwagen um. Das Wageninnere war mit Packpapier verdunkelt, außen hatte man den Schriftzug „Entrümpelung B. Sieg St. Pölten“ angebracht. Eine Schaumgummimatratze sorgte für „gedämpften Komfort“.

Nach „etwa 15 oder 20 Minuten“ Fahrtdauer hielt der Wagen an. Palmers wurde in die Matratze eingewickelt und von zwei Personen schräg abwärts getragen, „wobei sie sich sehr schwer taten“.  Irgendjemand betätigte einen Rollbalken und man brachte ihn in einen Raum, in dem sich ein 1,30 x 2,30 m großer Verschlag befand. Dieser, gab Palmers später an, habe an zwei Wänden eine Holzbretterwand gehabt:

„Die anderen beiden Wände seien mit billigem Dekorstoff überzogen gewesen. Auf dem Fußboden sei seiner Meinung nach ein Klebeparkett (15 x 15 cm) bloß aufgeklebt gewesen. Dies habe er deshalb erkannt, weil die Ränder des Parketts aufgebogen gewesen seien. Als Beleuchtung habe eine Glühlampe von ca. 15 Watt fungiert. Infolge dieser Dunkelheit war es nicht möglich, ein Buch (‚Die Hyänen‘) zu lesen. Die Bewacher (in der Regel zwei Personen, nur ein einziges Mal sei zusätzlich eine Frau erschienen, die sonst nie in Erscheinung getreten ist) haben weiße Overalls und abends dunkelblaue Overalls getragen. Sie seien immer mit Handschuhen und Roger-Staub-Mützen mit Sehschlitzen bekleidet gewesen. Infolge der Mützen und der Dunkelheit habe er nicht einmal die Augenfarbe der Bewacher erkannt. Während der Entführungsdauer habe er wenig gegessen. Das Essen sei auf neutralem Geschirr gebracht worden. Kochlärm oder Kochdünste habe er keine wahrgenommen. Auch habe kein Wohnlärm festgestellt werden können. Seiner Ansicht nach habe er sich in einer kleinen Werkstatt befunden, wo rückwärts eine Wohnung sich befand.“

In dem Verschlag befanden sich eine Campingliege, ein Beistelltisch und ein Kübel für die Notdurft. Die auf die Gasse hinausführenden Fenster waren mit Schaumstoff und Tüchern „abgedichtet“, was die Belüftung erschwerte. In solchen Verhältnissen musste Palmers fast 100 Stunden ausharren.

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Heutige Ansicht der Webgasse Nr. 42, wo Palmers gefangen gehalten wurde (Foto: Autor)

Trotzdem verlor Palmers über seine Entführer später kein böses Wort:

„Ich bin die ganze Zeit besonders nett behandelt worden. Ja, ich würde sogar sagen, die Entführer sind überaus höflich gewesen.“

Sie hätten auch seinen Wunsch respektiert, ihm die Uhr nicht abzunehmen: „Weggenommen haben sie mir gar nichts, sie haben sich nur das Notizbuch und den Waffenpass ausgeborgt.“  Dass Palmers über letzteren verfügte, kam für die Entführer überraschend: „Die weibliche Person ist erschrocken und hat gerufen: ‚Haben Sie eine Waffe bei sich‘. Dann wurde ich abgesucht.“ In dem Notizbuch fanden die Kidnapper Informationen darüber, wie sie mit der Familie in Kontakt treten konnten:

„Das Telefon in der Hockegasse ist ja überwacht worden. In dem Buch standen die Telefonnummern von Verwandten und Bekannten. So konnten sie an meine Frau Nachrichten schicken.“

Außerdem wurden dreimal Fotos von Palmers gemacht und mit Nachrichten an die Familie geschickt: „Ich schau natürlich gar nicht so heiter aus.“ Die Täter hielt Palmers für „überaus clevere und gebildete Menschen“ („Kurier“): „Sie haben, glaubt Palmers sich zu erinnern, mit deutschem Akzent gesprochen, jedenfalls jedoch hochdeutsch. Kein einziges Mal konnte er in Gesprächen einen Dialektausspruch vernehmen:

„Mit mir haben sich die Entführer häufig unterhalten, jedoch immer peinlich vermieden, über die Entführung ins Gespräch zu kommen.“

Er bekam ein neues Hemd und eine neue lange Unterhose – die, wie sich Palmers nicht verkneifen konnte – „von der Konkurrenz“ war. Es gab Lesestoff wie Hitchcock-Krimis und den „Schakal“ von Frederick Forsyth. Unter anderem wurden Naturschnitzel mit Salzkartoffeln, grüne Fisolen und Birnenkompott als Essen gereicht. „Ersparen Sie mir, es zu qualifizieren“, meinte Palmers später. Und er führte weiter aus: „Ich bin ein schwacher Esser, für mich hätte ein Achterl gereicht“, erinnerte er sich. Dafür erhielt Palmers seine Lieblingszigaretten der Marke „Falk“, ihm wurde ein tragbares TV-Gerät in den Verschlag gestellt und er durfte Radio-Hören. Wenn von seiner Entführung die Rede war, wurde immer abgedreht. Der Kontakt mit den Kidnappern beschränkte sich hauptsächlich auf eine „Frauenperson“:

„Sie hat mir erklärt, dass die Entführer 50 Mill. Schill. von mir fordern, was ich als utopisch bezeichnete und erklärte, ich könne höchstens 5 Mill. Schill. bezahlen. Die Frauensperson behauptete aber, dass ich ein Kaufmann sei, der keine Kredite in Anspruch nehme. Daraufhin erklärte ich ihr, dass ich trotzdem nicht so viel Geld hätte.“

In einem Interview führte Palmers dazu aus:

„Wie die mir gesagt haben, wieviel Geld sie für mich wollen, hab‘ ich gesagt ‚Das ist doch eine Narretei, ihr seid’s ja narrisch‘. Die haben geantwortet: ‚Nein, nein, wir haben gelesen, Sie sind der reichste Mann in der Textilbranche.‘ Ich hab‘ versucht, ihnen zu erklären, das kann man doch gar nicht heben. Denn eine Million Schilling in 1000-Schilling-Noten wiegt ein Kilo und 47 Deka. Das macht bei dieser Summe ein Gewicht von 72 Kilo, das ist doch enorm, das kann ja einer allein gar nicht heben.“

Die Entführerin, mit der er primär kommunizierte, habe einen „ostdeutschen Dialekt“ gesprochen:

„Sie wollte auch von ihm wissen, ob er der reichste Textilmann in Österreich sei. Kom. Rat. [Kommerzialrat] Palmers fiel auch ein zeitweise deprimiertes Verhalten der Frau auf, sie sagte, sie würde eines Tages ‚hinter Gittern sein‘ und wollte auch nicht, dass sich Kom. Rat. Palmers bei ihr bedankt, wenn sie ihm etwas brachte. Sie verlangte von ihm, dass er sie mit ‚Fräulein‘ anspricht. Kom. Rat. Palmers versuchte auch, durch geschickte Fragestellung Vornamen zu erfahren. Er fragte die Entführerin wie er sie rufen könne und wollte sich erkundigen, welche Vornamen sie sich wünschen würde. […] Darauf bekam er von ihr keine Antwort. Die Entführerin habe ihm auch gesagt, sie hätte nicht gewusst, wie alt Kom. Rat. Palmers sei. Sie zeigte sich erstaunt, als er ‚74‘ sagte.“

Identifizieren konnte Palmers keinen der Kidnapper:

„Sie dürfen nicht vergessen, die Leute trugen immer einen Overall, von oben bis unten verschlossen. Und das Gesicht hatten sie immer mit Ski-Mützen maskiert. Durch die Sehschlitze konnte man nur die Augen erkennen, aber ich könnte nicht einmal sagen, welche Augenfarbe sie hatten.“

Als er sich bei der Entführerin dafür bedankte, dass sie die „Zelle“ ein wenig lüftete, entgegnete diese: „Sagen Sie nicht immer danke!“ Palmers beharrte darauf: „Aber ich bin Ihnen ja wirklich dankbar, Fräulein.“ Daraufhin meinte die Kidnapperin: „Wir haben Ihnen doch so viel angetan.“ Es dürfte sich um Inge Viett von der Bewegung 2. Juni gehandelt haben. In ihrer Autobiografie gab sie zu Palmers an:

„Nachdem wir ihn entführt hatten, waren wir sehr erschrocken gewesen, weil wir plötzlich einen so alten Mann in den Händen hatten. Bei unseren Beobachtungen und auf Bildern war er uns viel jünger erschienen. Wir hatten ein schlechtes Gewissen und sorgten uns sehr um den Alten.“

Palmers selbst überspielte die physische und psychische Belastung, der er ausgesetzt gewesen war. 1979, als er einem seiner Kidnapper vor Gericht wieder begegnete, gab es kein schlechtes Wort:

„Ich habe die Situation eher gelassen ertragen. Ich bin heute 75 Jahre alt, und in diesem Alter nimmt man das gelassener entgegen. Ich hab mir gedacht, wenn’s aus is, ist’s halt aus. Sie hätten mich in der Nacht erschießen können und keiner hätte was gemerkt.“

Auf die Frage, ob sich an seinen Geschäfts- und Lebensgewohnheiten etwas geändert habe, meinte Palmers: „Kapital braucht man nicht, um ein schönes Leben zu führen, sondern für das Geschäft, und die Firma hat das verkraftet.“ Die Wahrheit war wohl eine andere: Palmers soll körperlich und seelisch Schaden genommen haben. Er war noch bis 1982 in die Unternehmensführung involviert, bis ihm ein Schlaganfall keine andere Wahl mehr ließ. Palmers starb im Jahr darauf.

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Titelseite der Arbeiter-Zeitung am 11.11.1977 (Quelle: arbeiter-zeitung.at)

HINWEIS: Vorliegender Text ist ein Auszug aus „Linksterrorismus in Österreich: Die Palmers-Entführung“ – Anfang Jänner 2018 im Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies (JIPSS) erschienen. pdf

Podcast: Die Palmers-Entführung (1977) – Linksterrorismus in Österreich (Stubat – Zeitgeschichte im Gespräch): http://www.stubat.at/st04/

Zur Palmers-Entführung bereits veröffentlicht:

Die Entführung des „Strumpfkönigs“: Der Fall Palmers und ein Hauch von RAF in Österreich“, in: Vice, 3. 9. 2017, https://www.vice.com/de_at/article/vbb8my/die-entfuhrung-des-strumpfkonigs-der-fall-palmers-und-ein-hauch-von-raf-in-osterreich

Wie aus ein paar Landgendarmen die Cobra wurde, in: Die Presse am Sonntag, 29. 10. 2017. http://diepresse.com/home/zeitgeschichte/5310938/Wie-aus-ein-paar-Landgendarmen-die-Cobra-wurde