Dr. Bull, die Superkanone & das „Projekt Babylon“

1990 erregt ein spektakulärer Mordfall weltweite Aufmerksamkeit: In Brüssel wird der kanadische Ingenieur und Waffenhändler Gerald Bull erschossen aufgefunden. Zuletzt hatte Bull an dem aberwitzig anmutenden „Projekt Babylon“ gearbeitet – nämlich den Irak mit einer „Superkanone“ aufzurüsten. Davor hatte Bull auch das Design eben jener Noricum-Haubitze verkauft, die Ende der 1980er Jahre zum Dreh- und Angelpunkt eines der schwersten Politskandale in Österreich wurde. Nun tauchte Bulls Name in den „Paradise Papers“ (http://bit.ly/2AJoPYrauf. Ein guter Anlass, sich diesen „Lord of War“ in Erinnerung zu rufen.

1985-1993 stand Österreich ganz im Zeichen des Noricum-Skandals. Auslöser waren illegale Waffengeschäfte mit Irak und Iran während des 1. Golfkriegs (1980-1988). Geliefert hatte die Noricum Maschinenhandels GmbH – eine Tochterfirma der VOEST-Alpine, damals das Schwergewicht der verstaatlichten Industrie (ÖIAG). Das Geschäft umfasste insgesamt 353 Noricum-Haubitzen, Munition und Zubehör. Damit verstieß man gegen das Kriegsmaterialexportgesetz. Dieses untersagt den Waffenverkauf an kriegsführende Staaten.

Die Ursachen des Noricum-Skandals liegen tief: Ab Mitte der 1970er Jahre war Österreich in eine Wirtschaftskrise geraten. Der Ölpreisschock von 1973/74 hatte die Energiepreise verteuert. Das traf den Stahl- und Eisenbereich – die Schwergewichte der verstaatlichten Industrie. Da Massenentlassungen nicht in Frage kamen, wählte man eine andere Strategie: Den Einstieg in neue Bereiche und Technologien. Darunter Waffenproduktion. Am 1. September 1979 wurde ein eigener Geschäftsbereich, die „Wehrtechnik“, installiert. Als Verkaufsschiene diente die Firma Noricum, die man im steirischen Liezen aufbaute.

Von dem kanadischen Ingenieur Gerald Bull erwarb die VOEST für zwei Millionen Dollar die Lizenz zur Erzeugung der GHN-45 (Gun Howitzer Noricum-Kaliberlänge 45). Hierbei handelte es sich um eine gezogene 155-mm Haubitze, die sowohl mit konventioneller Munition als auch mit taktischen Nuklearwaffen bestückt werden konnte. Mit einer Reichweite von 39 km übertraf die GHN-45 um fast 10  km mehr die Schussweiten sämtlicher Konkurrenzprodukte. Mit einer Spezialmunition („base bleed“) ließ sich die Reichweite sogar noch auf 45 km steigern.

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Eine GHN-45 als Museumstück in den USA (Quelle: Sturmvogel 66/Wikimedia Commons)

„Die Geschäftsanbahnung mit Gerald Bull ist auf ganz normalem Weg gelaufen“, erinnerte sich der damalige Noricum-Geschäftsführer, Peter Unterweger, im Interview mit dem Autor:

„Einer unserer Leute hat ihn kennengelernt und eine weltweite Lizenzproduktion besprochen. Viel konnte man mit Bull ohnehin nicht reden, denn er trank pro Tag ungefähr eineinhalb Flaschen Whisky. Aber Bull war definitiv ein absolut genialer Waffentechniker. Seine Entwürfe haben alles in den Schatten gestellt, was es damals international in Sachen Artillerie gegeben hat.“ 

Der Konstrukteur Bull und seine Firma Space Research Coooperation (SRC) waren alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Thomas Nowotny, damals Generalkonsul in New York, warnte in einem Schreiben an Bundeskanzler Bruno Kreisky:

„Die VOEST-Alpine muss aber auch wissen, dass diese Firma international schwer kompromittiert ist. Unter ihrem Deckmantel haben große Waffenschiebereien nach Südafrika stattgefunden und zwar im Wege über die Karibikinsel Antigua, auf der Space Research ein Testgelände besitzt oder besaß.“

Kreisky gab die Bedenken laut eigenen Angaben an den ÖIAG-Vorstand weiter. Doch die Verantwortlichen versicherten,

„dass die Pressemeldungen über Gesetzesverstöße im Zusammenhang mit Geschäften mit Dr. Bull […] jeder Grundlage entbehrten“.

So umstritten Bull war, in einem Punkt herrschte Einigkeit: Der 1928 geborene Kanadier war ein brillanter Wissenschaftler, der schon im Alter von 22 der Universität Toronto promoviert hatte. Er galt als das „größte Artillerie-Genie dieser Generation“, wie es ein Rüstungsexperte formulierte. Nicht umsonst wurde Bull eine seltene Ehre zuteil: 1972 wurde ihm 10 Jahre rückwirkend die US-amerikanische Staatsbürgerschaft verliehen.

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Gerald Bull (ganz links) 1964 in Montreal (Quelle: WordClerk/Wikimedia Commons)

Schon Anfang der 1960er Jahre hatte Bull mit Unterstützung durch die US-Army und der kanadischen Regierung ein 36 Meter langes 40 cm-Geschütz gebaut und auf einem eigenen Forschungsgelände auf der Insel Barbados testen lassen. Das Design war inspiriert von dem sogenannten Paris-Geschütz, einem deutschen Fernkampfgeschütz der Firma Krupp aus der Spätphase des 1. Weltkriegs. Dieses hatte angeblich eine Reichweite von 130 km. Noch vor Abschluss der Kampfhandlungen waren alle zwei bis drei Exemplare zerstört worden, um nicht in feindliche Hände zu fallen. Bull aber machte Unterlagen des damaligen Krupp-Chefentwicklers Fritz Rausenberger ausfindig und so war es ihm möglich, die Funktionsweise der zerstörerischen Waffe zu rekonstruieren.

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Bulls Modell, das sogenannte Paris-Geschütz, mit dem die französische Hauptstadt 1918 beschossen wurde (Quelle: Wikimedia Commons)

Sein eigenes Geschütz, das er im Rahmen des High Altitude Research Project (HARP) in der Karibik entwickelte, sollte letztlich in der Lage sein, eine Drei-Stufen-Rakete abzufeuern, die dann einen Satelliten in den Orbit tragen würde. Aber 1967 wurde die Finanzierung für HARP eingestellt, weil die Geldgeber zur Ansicht gekommen waren, dass dieses Konzept angesichts moderner Raketentechnologie veraltet war. Bull aber dachte nicht daran, die Vision von einer Superkanone aufzugeben.

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Überreste einer HARP-Kanone auf Barbados (Quelle: Brohav/Wikimedia Commons)

Mit seiner SRC und mit Unterstützung durch die südafrikanische Waffenschmiede Armscor konstruierte Bull Ende der 1970er Jahre eine besonders leistungsfähige Haubitze, die G-5. Deren Design verkaufte er dann, wie bereits erwähnt, an die VOEST, die daraus die GHN-45 entwickelte. Für Bull hatten diese Deals negative Folgen: Das Apartheid-Regime Südafrika war damals von der UNO mit einem Waffenembargo belegt. Wegen Verstoßes dagegen wurde Bull 1980 angeklagt und verbrachte sechs Monate in einem US-Hochsicherheitsgefängnis. Er verlor alle seine früheren Privilegien und geriet in Finanznot. 1981 gründete er seine bankrotte Firma in Brüssel neu. Und es zeigte sich einmal mehr, dass Bull bereit war, seine Technologie an den Höchstbietenden zu verkaufen.

Obwohl er bekennender Antikommunist war, half er zunächst China, seine Artillerie zu modernisieren. Dann, Mitte der 1980er Jahre, eröffnete sich für Bull eine neue Chance. Vermutlich 1986 trug er dem irakischen Diktator Saddam Hussein erstmals den Plan vor, für ihn eine Superkanone zu bauen – mit der es möglich sein würde, den Iran oder Israel direkt anzugreifen. 1988 lief das Projekt Babylon tatsächlich an und drohte das strategische Gleichgewicht im Nahen Osten zu verändern.

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Ein vom britischen Zoll beschlagnahmtes Teilstück der irakischen Supergun – nun ein Museumsstück (Quelle: Oxyman/Wikimedia Commons)

Sehr bald erhielt Bull Drohungen, von seinem Vorhaben abzulassen. Aber er ging darauf nicht ein. Als er 22. März 1990, einem regnerischen Frühlingstag, in seine Brüsseler Wohnung zurückkehrte, wartete schon ein Profikiller auf ihn. Ob dieser tatsächlich vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad stammte, lässt sich nicht beweisen. Ein ehemaliger Agent, Victor Ostrovsky, behauptetet es jedenfalls. Ihm zufolge hatte ein ganzes Killerkommando nicht nur den genauen Tagesablauf Bulls studiert, sondern sich auch im selben Gebäude eingemietet:

„Als Dr. Bull um 20.30 Uhr das Haus betrat, signalisierte der Beobachter vor dem Haus dem Mann im leeren Apartment im sechsten Stock, sich bereitzumachen. Der Schütze verließ die Wohnung und ließ nur eine leere Zigarettenschachtel und ein Streichholzbriefchen eines Brüssler Hotels zurück. Er versteckte sich in einer Nische. Sobald sich die Fahrstuhltür hinter Dr. Bull geschlossen hatte, schoss der Killer dem Mann aus unmittelbarer Nähe in das Genick und den Kopf.“

Die 20.000 Dollar in bar, die Bull bei sich hatte, wurden nicht angerührt. Niemand sah oder hörte etwas. Der Fall bleibt ungelöst.

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Laut Plan hätte die Supergun eine Reichweite von 760 km gehabt (Quelle: http://bit.ly/2hyEYLW)

Bull war eine widersprüchliche Persönlichkeit: Er konnte kein Blut sehen, wanderte oft über die Friedhöfe des 1. Weltkriegs und las die Grabinschriften. Gleichzeitig wurden mit den Waffen, die er entworfen hatte, Abertausende auf den Schlachtfeldern des Golfkrieges getötet oder verwundet. Er sei nicht mehr verantwortlich als jener Mann, der die Lastwagen entworfen habe, mit denen die Truppen an die Front gekarrt wurden, meinte Bull. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er sprichwörtlich bereit war, sich mit dem „Teufel“ einzulassen.

Und die VOEST? Auch ihr brachte die GHH-45 kein Glück, im Gegenteil. 1981 gelang es endlich, in einem Großauftrag 200 GHN-45 an Jordanien zu verkaufen. Diese gelangten aber rasch in den kriegsführenden Irak, woraufhin der Iran ebenfalls Haubitzen beziehen wollte. Über das Drittland Libyen und weitere gefälschte Endverbraucherzertifikate arrangierte man zwischen 1985 und 1988 entsprechende Lieferungen. Nachdem diese illegalen Deals gegen Ende der 1980er Jahre sukzessive öffentlich wurden, war der Skandal perfekt. Zwischen 1991 und 1993 kam es zu mehreren Prozessen gegen involvierte Manager und Ex-Politiker.

Ohne Gerald Bull und seine Vision von der Superkanone wäre es wahrscheinlich nie so weit gekommen.

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Eine von zahlreichen Bull-Biografien, die nach seinem Tod erschienen sind

Hinweis: ORF ZIB2-Beitrag zum Thema „Noricum-Skandal taucht in Paradise-Papers auf“ http://tvthek.orf.at/profile/ZIB-2/1211/ZIB-2/13953176/Noricum-Skandal-taucht-in-Paradise-Papers-auf/14175292

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