Nach Manchester: Wie ist es um die Terrorgefahr in Österreich bestellt?

Für Österreich bedeutet der radikal-islamistische Terrorismus eine große Herausforderung. Und dass obwohl das Land bereits in der Vergangenheit mehrfach Schauplatz terroristischer Gewalt gewesen ist. Die neue Bedrohung passt aber nicht in bekannte Muster. Von daher greift jene Sicherheitsdoktrin nicht mehr, mit der man in den Jahrzehnten davor die Gefahr eindämmte. Aktuell zeigt sich: Der Terrorismus rückt heran, es gibt erste konkrete Drohungen und verfestigte radikale Milieus im Inland. Dementsprechend steht der heimische Antiterrorapparat vor großen Umwälzungen: Das Bundesheer beansprucht eine größere Rolle, während das Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) expandiert und die früher passive Haltung aufgibt. Vor allem aber ist es an der Zeit, sich von lange gehegten Gewissheiten zu verabschieden.

In Europa hat der radikal-islamistische Terrorismus mit den Anschlägen von Madrid (2004) eingesetzt. Seit zwei Jahren ist eine Häufung von Attentaten zu beobachten: Kopenhagen (2015), Paris (2015), Brüssel (2016), Nizza (2016), Ansbach (2016), Würzburg (2016), Saint-Étienne-du-Rouvray (2016), Berlin (2016), Paris (2017), London (2017), Stockholm (2017) und Manchester (2017). Zu den verlustreichsten Terrorakten zählten jene, die von Attentätern begangen wurden, die zuvor im Jemen, Libyen oder Syrien eine entsprechende Ausbildung erhalten hatten. So wurden in Paris im Januar 2015 und im November 2015 neben der Redaktion von Charlie Hebdo Menschenansammlungen im öffentlichen Raum (Bars, Restaurants, Konzerthalle, Supermarkt, Stadium) angegriffen. Die sogenannte Brüssler Zelle war nicht nur für die Anschlagserie in Paris Ende 2015, sondern auch für die Bombenexplosion auf dem Flughafen der belgischen Hauptstadt verantwortlich. Hinter dem Massaker in Manchester vermuten Ermittler ebenfalls ein Netzwerk – zumindest der Bombenleger dürfte sowohl nach Syrien als auch nach Libyen gereist sein.

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Solidaritätsbekundung für den „Islamischen Staat“ auf Twitter (2014)

Neue Herausforderung

Für Österreich im speziellen bedeutet der radikal-islamistische Terrorismus eine neue Herausforderung. In der Vergangenheit ist das Land mehrfach Schauplatz terroristischer Gewalt gewesen. Abgesehen von immer wieder virulenten Rechtsterrorismus, Gewalt im Zusammenhang mit dem Kampf um Minderheitenrechte (Südtirol, Kärnten) und sporadischem Linksterrorismus (Palmers-Entführung 1977, Anschlag von Ebergassing 1996) war Terrorismus vor allem das Werk ausländischer Akteure auf österreichischem Boden: Armenische und kurdische Gruppen verübten in den 1970er und 1980er Jahren mehrere Attentate gegen türkische Ziele. 1984 versuchte eine pakistanische Organisation erfolglos Manager des Ford-Konzerns als Geiseln zu nehmen und es ereigneten sich bis heute ungeklärt gebliebene Explosionen vor den Botschaften von Irak und Iran. Anfang der 1970er Jahre immer wieder gefährdet waren auch jüdische Auswanderer aus der Sowjetunion, die über Österreich nach Israel reisten.

Schwerwiegend war die OPEC-Geiselnahme (1975), die einem Machtkampf innerhalb des Erdölkartells geschuldet war. Besonders verlustreich gestalteten sich Anschläge der Abu-Nidal-Organisation (ANO), die auf diese Weise gegen die Förderung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) durch Bundeskanzler Bruno Kreisky vorging. Letzterer hatte sich dadurch eine Entschärfung des Nahostkonflikts versprochen. Der Mord an Stadtrat Heinz Nittel (1981), der Überfall auf die Wiener Synagoge (1981) und das Attentat am Flughafen Wien (1985) sollten Österreich von der Linie abbringen, die PLO politisch zu „normalisieren“. Und schließlich erlebte man immer wieder staatsterroristische Mordaktionen – an drei kurdischen Politikern (1988) und dem tschetschenischen Flüchtling Umar Israilov (2009).

Im Unterschied zum heutigen „führungslosen“ radikal-islamistischen Terrorismus mit seinen losen Netzwerken stammt der Terrorismus, mit dem Österreich bis dato konfrontiert war, aus einer vergangenen Ära. Während des Kalten Krieges setzten östliche und arabische Geheimdienste Terroristen quasi zur Fortsetzung der Politik „mit anderen Mitteln“ ein. Im Gegenzug erhielten diese Protektion, Logistikunterstützung sowie die Möglichkeit, Waffen und Sprengstoff in diplomatischen Gepäck zu transportieren. Sowohl die OPEC-Geiselnahme als auch der ANO-Terror fallen in diese Kategorie. Dieser „gesponserte“ Terrorismus bot andererseits die Möglichkeit für diskrete Gegendiplomatie: So profitierte Österreich von Informationen der PLO und dem Vertrauensverhältnis Kreiskys zum „Dienstherrn“ Abu Nidals, Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi. Während der heutige Terrorismus einen apokalyptischen „Krieg der Zivilisationen“ provozieren will, war es in den 1980er Jahren so möglich, geheime Absprachen zur Terrorvermeidung zu treffen.

Das Ende der alten Sicherheitsdoktrin

Hier kann man von einer pragmatischen Doktrin sprechen – verschiedenen Akteuren wurde die Möglichkeit geboten, ihren Geschäften nachzugehen, solange die Sicherheit Österreichs nicht betroffen war. So wurde der politischen Dachorganisation der kurdischen PKK Mitte der 1990er Jahre erlaubt, ein Büro zu eröffnen. Die ANO wiederum durfte zwischen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre sogar einen inoffiziellen „Botschafter“ in Wien unterhalten. Familienangehörige Abu Nidals wurden im AKH gratis behandelt. Dafür hörte der Terror der Gruppe auf. Ein ähnliches duldendes Verhalten gibt es seit jeher gegenüber ausländischen Nachrichtendiensten: Spionage ist hierzulande nur strafbar, wenn sie gegen Österreich gerichtet ist.

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Radikaler Islamismus in Österreich

Eben diese „österreichische Doktrin“ bietet unter den neuen Gegebenheiten keinen Schutz mehr: Für Verhandlungen gibt es weder Ansprechpartner noch irgendeine Basis, auf der man sich einigen könnte. Ereignisse wie beispielsweise die OPEC-Geiselnahme waren staatlich gesteuert, um ein klar definiertes Ziel durchzusetzen. Nachdem sich die 11 Erdölminister damals in der Hand der Terroristen befanden, wurde unnötiges Blutvergießen vermieden. In den mehr als vier Jahrzehnten seither ist Terrorismus zu einer wahllosen Bedrohung für „alle“ geworden – niemand soll sich mehr sicher fühlen. An die Stelle einer konkreten Agenda ist religiöser Fundamentalismus und Nihilismus getreten. Ebenso ist es mit der früheren besonders engen Abhängigkeit von Sponsoren vorbei.

Zweifellos gibt es eine radikal-islamistische Szene in Österreich: Schon ab Ende der 1990er Jahre wurde festgestellt, dass die Predigten in gewissen Moscheen radikaler wurden. In strafrechtlich relevanter Hinsicht verhielten sich islamistische Kräfte aber großteils „unauffällig“, womit für das Einschreiten die Grundlage fehlte. Dabei waren diese Milieus laut dem deutschen Experten Guido Steinberg auch über den heimischen Kontext hinaus einflussreich. So sollen die afghanischen Brüder Jamaluddin und Farhad Qarat die Ersten gewesen sein, die den salafistischen Jihadismus öffentlich vertraten. Sie spielten auch beim Transfer nach Deutschland eine wichtige Rolle. Beide standen in engem Kontakt zu dem bosnischen Imam Nedzad Balkan, der ebenso wie der einflussreiche Prediger Abu al-Khattab in der Sahaba-Moschee in der Lindengasse Nr. 1, unweit der Wiener Stiftskaserne, wirkte. Diese Moschee besuchte auch Mohamed Mahmoud, ein 1985 geborener Österreicher mit ägyptischen Wurzeln, der nach Verbüßung einer Haftstrafe 2011 in Berlin Millatu Ibrahim gründete, die erste Jihad-Bewegung in Mitteleuropa.

Anfang 2017 belief sich die Zahl der sogenannten „Jihad-Rückkehrer“; also von Personen, die in die nahöstlichen Konfliktgebiete gereist sind, auf 90 Personen. Seit Anfang des Syrien-Konfliktes haben sich 300 Personen aus Österreich auf den Weg dorthin gemacht. 40 starben dort, rund 50 wurden von den Sicherheitsbehörden gestoppt. „Jihad-Rückkehr“ gelten laut Verfassungsschutzbericht (2015) als besondere Gefahrenquelle:

„Nach der Rückkehr aus dem Krisengebiet stellen die dort erlangten Kampferfahrungen, traumatische Erlebnisse dar und damit einhergehende gemeingefährdende Verhaltensänderungen (Herabsetzung der Hemmschwelle zur Begehung von Gewalttaten) sowie eine mögliche ausgereifte Radikalisierung ein Sicherheitsrisiko.“

Zumindest hat die sich abzeichnende militärische Niederlage der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Reisebewegungen seit 2016 einbrechen lassen.

Zahlreiche Anschläge der jüngsten Vergangenheit wurden weiters von Jihad-Unterstützern begangen: Hierbei handelt es sich um ein oder mehrere Personen, die zuvor nicht im Nahen Osten gekämpft haben und oft aus Eigeninitiative handeln („Lone Wolf“).

Hinzu kommt, dass sich in unmittelbarer geografischer Nähe zu Österreich ein „Hotspot“ des Jihadismus befindet, der Westbalkan. Im Kosovo, in Bosnien-Herzegowina, Albanien und in Mazedonien haben sich Netzwerke für die Auseinandersetzungen in Syrien und im Nordirak gebildet. Strategische, logistische und finanzielle Unterstützung erfolgt durch salafistische Kreise in Wien und Graz. Erst Anfang 2017 wurde dort das österreichisch-bosnisches Islamisten-Netzwerk des Predigers Mirsad O. endgültig zerschlagen.

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Kellerlokal-Moscheen in der Venediger Au zählten zu Hotspots der Radikalisierung

Konkrete Risiken

Österreich mag als neutrales Land nicht an den westlichen Militäreinsätzen gegen den IS beteiligt sein. Das bedeutet aber keineswegs, „sicher“ zu sein. 2015 wurde in der Titelgeschichte des IS-Magazins Dabiq zu Anschlägen gegen die USA und ihre Verbündeten aufgerufen – was auch Österreich miteinschließt:

„Jeder Muslim sollte außer Haus gehen, einen Kreuzzügler finden und ihn töten.“

Anfang 2015 wurde eine Anschlagsdrohung per Video gegen Österreich ausgesprochen – und zwar von dem hier geborenen Jihadisten Mohamed Mahmoud, der den Führungszirkeln des IS in Syrien zugerechnet wird. Ebenso hat es 2016 Drohungen gegen die Polizei, den Wiener Flughafen und Hauptbahnhof gegeben. Und geographisch ist der Terror seit den Anschlägen in der BRD 2016 immer näher herangerückt. Bislang aber wurde Österreich als Durchzugsgebiet genutzt: Am Ausgang der „Balkanroute“ gelegen, reisten etwa einige der Brüssel-Attentäter durch das Land.

Auf Behördenseite kommt hinzu, dass sich das zuständige Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) in einem Umstrukturierungsprozess befindet. Es handelt sich um keinen „klassischen“ Nachrichtendienst. Personell wird am Limit agiert. So bindet die Rundumüberwachung eines Verdächtigen alleine 20 Personen. Seit 2015 wurden jedenfalls 215 zusätzliche Beamte angestellt und 90 Millionen Euro in Ausrüstung investiert. Es zeichnet sich ab, dass das BVT über die bisherige Tradition des Beobachtens und Information-Sammelns pro-aktiver agieren wird. Das schließt das Rekrutieren „menschlicher Quellen“ und den Einsatz  von verdeckten Ermittlern mit ein. Symbolischer Wendepunkt war die Operation Palmyra (2014), damals die europaweit größte Razzia in der islamistischen Szene.

Auch wird es künftig darauf noch mehr darauf ankommen, mobile und gut bewaffnete Spezialkräfte für schnelle Reaktionsmanöver in Bereitschaft zu halten – so wie es das EKO Cobra bereits praktiziert. Es bleibt abzuwarten, ob der Informationsaustausch auf europäischer Ebene (Europol, Counter Terrorism Group) optimiert werden kann. Nachrichtendienste tun sich bekanntermaßen schwer damit, Erkenntnisse zu teilen.

Mittlerweile beansprucht das Bundesministerium für Landesverteidigung eine größere Rolle bei der Terrorabwehr: Ein Sicherheitskabinett soll den Weg für einen schnelleren Heereseinsatz im Inneren ebnen. Die zwei militärischen Nachrichtendienste sollen künftg enger mit dem BVT zusammenarbeiten. Und mit dem Jagdkommando steht eine eigene Einheit für Terrorabwehr zur Verfügung.

Für Prävention gibt es mittlerweile entsprechende Strukturen: Neben der Beratungsstelle Extremismus, einer bundesweiten Anlaufstelle des Inneministeriums, gibt es in Wien das Netzwerks für Deradikalisierung und Prävention. 

Ein konkretes Sicherheitsrisiko stellt die dichte Präsenz von internationalen Organisationen in Wien dar. Auch ausländische Vertretungen könnten betroffen sein. Dagegen spricht, dass diese Objekte generell gut überwacht werden und daher wenig lohnenswerte Ziele sind. Realistisch sind weiters Anschläge gegen „kritische Infrastruktur“ – das Innenministerium soll eine diesbezügliche Liste von 192 gefährdeten Objekten erstellt haben. Die jüngsten Anschläge haben zudem die Verletzbarkeit von Großveranstaltungen und her insbesondere von Menschentrauben vor Checkpoints gezeigt. Entsprechende bauliche Maßnahmen und der Einsatz von temporären Barrieren sollten daher Priorität haben.

„Jeder Morgen, an dem man aufwacht und nichts ist passiert, ist ein Erfolg“

So bedauerlich es ist, mit terroristischer Gewalt in Österreich muss gerechnet werden. Auch wenn es Abstufungen gibt, so hat der ehemalige britische Polizeioffizier Hugh Orde die neue Realität kürzlich auf den Punkt gebracht:

„Every morning that you wake up and nothing has happened is a success.“

Festgehalten hat Orde zudem: Es braucht keine Anlassgesetzgebung oder drastische Maßnahmen, um den Terrorismus zu bezwingen – sondern möglichst ruhige, methodische Polizei- und Geheimdienstarbeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich der radikal-islamistische Terrorismus letztlich von selbst „totlaufen“ wird, weil er außer nihilistischer Gewalt nichts anzubieten hat. Das haben historische Erfahrungen in Algerien oder Ägypten während der 1990er Jahre gezeigt, aber auch der Macht- und Einflussverlust des IS legt dies nahe.