„Die Angst der Reichen“: Der vergessene Entführungsfall Böhm vor 40 Jahren

Nur wenige Wochen nach der Palmers-Entführung wurde Österreich von einem ganz ähnlichen Verbrechen erschüttert. Am Montag, 12. Dezember 1977, erhielt der Inhaber der Textilkette „Schöps“, Leopold Böhm (1922-2007), auf einer Geschäftsreise in Italien einen Anruf des Wiener Polizeipräsidenten Karl Reidinger: „Ihre Frau ist entführt worden.“ 40 Jahre später ist die Böhm-Entführung in Vergessenheit geraten. Dabei handelte es sich um einen Wendepunkt in der Entwicklung der inneren Sicherheit in Österreich.

Die 42jährige Lieselotte Böhm war vor der eigenen Villa in Wien-Grinzing von zwei vermummten Männern überwältigt und verschleppt worden. Nach fünf Tagen, am 17. Dezember um 4.13 Uhr, kam Frau Böhm mit einem Taxi wieder zu Hause an. Das Lösegeld – 21 Millionen Schilling – war zuvor vor einer Tankstelle in der Heiligenstädterstraße 77 übergeben worden. Die Parallelen zum Fall Palmers lagen auf der Hand. Auch Frau Böhm war in einer Art Kabine, die mit Schaumgummi schalldicht ausgepolstert war, gefangen gehalten worden. Über die Täter sagte das Opfer:

„Ihre Entführer seien korrekt gewesen und hätten überwiegend gepflegtes Deutsch gesprochen, sie machten einen intelligenten Eindruck.“

Erkennen konnte Frau Böhm die beiden Männer nicht: Man hatte ihr eine mit Leukoplast verklebte Brille aufgesetzt und sie musste ein Kopftuch tragen. Wie schon die Familie Palmers, schaltete Böhm die Polizei nicht ein. In einem Rundfunkinterview bekundete er, den Fall auf „eigene Faust“ und „im Alleingang“ zu bereinigen.

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Meldung der Arbeiter-Zeitung vom 15. Dezember 1977 (Quelle: arbeiter-zeitung.at)

Befürchtungen, dass es sich um die nächste Aktion von Linksterroristen gehandelt haben könnte, zerstreuten sich rasch. Am 12. Januar 1978 wurden die beiden Kriminellen Franz Panagl und Paul Francsics bei einer Transaktion in einer Wiener Bank festgenommen. In den vorangegangenen Monaten hatten beide als Mitglieder der „MP-Bande“ mehrere Banküberfälle verübt. Wie die Palmers-Entführer sollen sie vor der Tat das Buch Die Reichen und die Superreichen konsultiert haben.

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Quelle: Arbeiter-Zeitung vom 18. Dezember 1977

Ein an den Ermittlungen beteiligter Beamter erinnerte sich im Gespräch mit dem Autor:

„Die Täter haben das Lösegeld auf österreichischen Sparbüchern angelegt. Ein aufmerksamer Bankbeamter hat einmal beim Einzahlen gemerkt, dass das nicht mit rechten Dingen zugehen kann. Da hat einer der Täter eine Million angelegt und weil er nicht die ganze Summe parat hatte, hat er gesagt, er geht zum Auto den Rest holen. Wie wir erfahren haben, dass die 30 bis 40 Sparbücher eröffnet hatten, haben wir die Überwachung eingeleitet. Das hat 100 Leute rund um die Uhr gekostet. Einmal haben sie abgehoben und da waren wir dann mit dabei.“

Zwei Entführungsfälle mit prominenten Opfern so kurz nacheinander steigerten den Druck auf Regierung und Polizei. In der Wochenpresse war von der „Angst der Reichen“ zu lesen:

„Sie fürchten alle eines: Dass es heute passieren könnte oder morgen, dass sie vor ihrer Villa in einer winterabendlich-menschenleeren Stadtrandstraße unsanft aus ihren Autos gezerrt und von den bewaffneten Geiselnehmern in einen bereitstehenden Transporter gestoßen werden. Und dass sie runde hundert Stunden später berichten werden: von der Fahrt, während der sie eine Skibrille tragen mussten, von der gepolsterten Zelle mit oder ohne erkennbaren Verkehrslärm, von der Angst, die sie trotz ‚durchaus freundlicher und korrekter‘ (Liselotte Böhm) Bewacher Tag und Nacht in den Krallen hatte.“

Die Palmers- und die Böhm-Entführung hatten sich „nach einem identen Schema“ innerhalb von fünf Wochen ereignet – mit 50 Millionen Schilling „Reingewinn“. Auf einer Kidnappingliste deutscher Terroristen hätten sich auch die Namen österreichischer „Wirtschaftskapitäne“ befunden. Palmers rangierte im Mittelfeld. Gewarnt sei niemand worden. Die Erklärung der Polizei lautete:

„Wir können doch nicht jedem, der sich bedroht fühlt, einen Beamten hinstellen.“

Das ließ die Wochenpresse nicht gelten: Die Behörde hätten auf die „vorhersehbare Entwicklung“ nicht entsprechend reagiert „nach dem bis zur Katastrophe gepflegten Motto: Es muss erst etwas passieren, bis etwas geschieht.“ Als Konsequenz war ein „Leibwächter-Boom“ zu beobachten:

„Zu spät, aber doch will sich nun auch der Palmers-Senior samt Familie, gleich anderen Prominenten Österreichs aus Politik und Wirtschaft, durch Privatgorillas schützen lassen. […] Damit soll ein ‚Fall Palmers‘ künftig vermieden werden.“

Vor Palmers und Böhm hatte sich der letzte Entführungsfall eines Prominenten in Wien im Januar 1971 ereignet: Damals war der 22jährige Theologiestudent und Millionärssohn Hans Michael Bensdorp, Angehöriger der Schokoladedynastie, von zwei Männern gekidnappt und gegen ein Lösegeld von 50.000 Schilling wieder freigelassen worden. Zur Entlarvung der Täter trug ein Portier der Firma bei, der sich die Gesichtszüge der Männer eingeprägt hatte.

Die Ereignisse in Österreich waren aber auch Teil eines besorgniserregenden internationalen Trends: Zwischen 1974 und 1977 wurden weltweit mehr als 4.000 Unternehmer Opfer politischer oder krimineller Entführungen. In der BRD wurde ebenfalls im Dezember 1977 der 26jährige deutsche Industriellensohn Richard Oetker gegen ein Lösegeld von 21 Millionen D-Mark von Kidnappern freigelassen. Besonders betroffen war Italien, wo allein 1977 40 Millionäre verschleppt wurden und das, obwohl eine „Armee von 50.000 Leibwächtern um etwa 10.000 Schilling pro Mann und Monat“ die Prominenz beschützte.

In Österreich war jedenfalls dringender Handlungsbedarf gegeben. Minister Josef Staribacher vertraute am 13. Dezember 1977 seinem Tagebuch an:

„Nach dem Ministerrat hat Kreisky eine Ministerratsnachbesprechung abgehalten, um die Wiener Polizei insbesondere Präs.[ident] Reidinger wegen der Entführungsaffäre Böhm stark zu kritisieren. Lanc stellte fest, dass gerade in diesem Fall aus freundschaftlichen Beziehungen tatsächlich gewisse Sicherheitsmaßnahmen getroffen wurden. U.a. ist am Schreiberweg ständig ein Polizei-Auto unterwegs, weil es dort mehrere gefährdete Personen gibt. Frau Böhm hat auch gegenüber NR [Nationalrat] [Kurt] Heindl, wie er mir erzählte, diese Kontrolle festgestellt. Kreisky ist nur der Meinung, dass man dem Anruf um 4 Uhr früh größere Bedeutung hätte beimessen müssen. Die Polizei kann nicht fragen, welchen Schutz man will, sondern hat gefährdete Personen zu schützen. Dazu erklärt Lanc sich vollkommen außerstande, weil er einen ungeheuren Mangel an geeigneten Leuten hat. In der ÖGB-Bundesfraktion hat dann Lanc auch über diesen Fall berichtet und darauf hingewiesen, dass er jetzt eine eigene Gruppe von 20 Kriminalbeamten und Staatspolizeibeamten gebildet [hat], die mit Aufklärung solcher Fälle befasst werden soll. Außerdem wird die Spezialtruppe der Gendarmerie, die jetzt 44 Mann beträgt, verdreifacht, […]. Lanc ist sich vollkommen klar darüber, dass noch so gute Ergebnisse über die Sicherheit durch Abnahme der Leib- und Lebensdelikte um 25%, der Vermögensdelikte selbst um 6%, nichts nützen, wenn so spektakuläre Fälle wie die Entführungen nicht aufgeklärt werden können.

In diesem Absatz sind die beiden wichtigsten Konsequenzen aus den Entführungsfällen Palmers und Böhm vermerkt: Die Gründung der Kriminalbeamten-Einsatzgruppe (KEG) und des Gendarmerieeinsatzkommandos (GEK), heute als Einsatzkommando Cobra bekannt.

Was die KEG betrifft, so erging nur acht Tage nach der Böhm-Entführung die Weisung, „eine spezielle Gruppe von Beamten zur Vorbeugung und Bekämpfung der Auswirkungen des Terrors auf unser Bundesgebiet aufzustellen“. Die Einheit wurde am 20. Februar 1978 als Referat 8 bei der Bundespolizeidirektion Wien/Abteilung I (Staatspolizeilicher Dienst) angesiedelt. Innenminister Erwin Lanc bekundete: „Neue Formen der Kriminalität erfordern auch neue Formen der Organisation“. Die KEG-Angehörigen bildeten Mitte der 1980er Jahre den personellen Grundstock für einen weiteren Professionalisierungsschritt, die Gründung der Einsatzgruppe zur Bekämpfung des Terrorismus (EBT), die 2002 gemeinsam mit der ehemaligen Staatspolizei im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) aufging.

Bereits am 1. Januar 1978 war mit dem GEK eine für das gesamte Bundesgebiet zuständige Spezialeinheit installiert worden. Anders als die KEG hatte das GEK bereits eine längere Vorgeschichte und die Entscheidung zu seiner Expansion war bereits gefallen, als Palmers und Böhm entführt wurden. Aber die Entwicklung wurde durch dadurch beschleunigt.

Am 14. Februar 1978 bezog das GEK sein neues Hauptquartier, das seit drei Jahren leerstehende Schloss Schönau an der Triesting. Es wurden ausschließlich Freiwillige aufgenommen, die sich einem harten Auswahlverfahren unterziehen mussten. Insgesamt wurden in dieser Anfangsphase 70 Millionen Schilling investiert. 2002 sollte das GEK 2002 im Zuge der Polizeireform mit anderen Einheiten zum EKO Cobra verschmolzen werden.

Die Ereignisse des Jahres 1977 haben Österreichs Sicherheitsbereich somit auf Jahrzehnte geprägt.