Vor 45 Jahren, am 20. Dezember 1975, war die Spionagestadt Wien Schauplatz einer besonders spektakulären Operation, die aber in Vergessenheit geraten ist. Mitten in Wien, vor der zentralen Votivkirche, „verschwand“ ein sowjetischer Überläufer vor der Votivkirche und wurde nicht mehr gesehen: Nicholas George Shadrin war dem KGB in die Falle gegangen. Offiziell ist der Fall bis heute ungeklärt. Und er verdeutlicht, dass der Kalte Krieg in Wien auch in späteren Jahren mitunter mit aller Härte und Verschlagenheit ausgetragen wurde. Denn es sollen auch Ost-Spitzel in den Reihen des österreichischen Sicherheitsapparats in das Verschwinden Shadrins involviert gewesen sein.
Boris Volodarsky, der sich mit dem Verschwinden von Shadrin beschäftigt hat, verdächtigt insbesondere den Staatspolizisten Gustav Hochenbichler. Dieser war unter anderem für Objektsicherheit zuständig und soll seit den frühen 1970er Jahren unter dem Decknamen „ZAK“ für den KGB spioniert haben (abgesehen davon war Hochenbichler als „IM Bau“ auch für die ostdeutsche Staatssicherheit tätig).
Was seine angebliche Verwicklung in das Verschwinden von Shadrin angeht, so soll Hochenbichler bei einem Mittagessen informiert worden sein, dass die CIA eine Operation in Wien plane. Insbesondere wies man ihn an, die Gegend um die Votivkirche im Auge zu behalten. Dafür, dass Hochenbichler den Überläufer Shadrin verraten hatte, gibt es keinen Beweis, aber es erscheint plausibel, dass er den KGB über die Schritte der CIA am Laufenden hielt. Ob die Entführung tatsächlich unter den „Augen“ der Staatspolizei geschah, dafür fehlen ebenfalls Belege. Im Staatsarchiv/Archiv der Republik sind bis dato jedenfalls keine Dokumente zu dem Fall vorhanden.
Alarm bei der Vienna Station
Abgespielt hatte sich das Drama folgendermaßen: Anfang Dezember 1975 wurden plötzlich die 15 Mitarbeiter der CIA-Station Wien in Alarmbereitschaft versetzt. Alle Dienstfreistellungen und Urlaube vor Weihnachten wurden widerrufen. Ein hochbrisante Einsatz stand bevor: Unter Aufsicht seiner CIA-Führungsoffizierin sollte der sowjetische Überläufer Shadrin seine Kontaktleute beim KGB treffen.
Darunter vermutete man einen geheimnisvollen Agenten mit dem Codenamen „Igor“, der sich eines Frühlingstages 1966 direkt bei CIA-Direktor Richard Helms gemeldet hatte. Der Unbekannte bekundete sein Interesse daran, für die USA zu arbeiten. Lange Jahre geschah in der Sache nichts. Aber im Verlauf des Jahres 1975 gab es Anzeichen, dass „Igor“ dabei sein würde, um Shadrin zu empfangen. Als Begegnungsort wurde seitens der KGB-Kontaktleute Helsinki vorgeschlagen. Aber die CIA gab Shadrin die Anweisung, Wien anzubieten.
Wien – die „Hochburg des KGB“
Der damals 47jährige Shadrin hieß eigentlich Nikolai Fedorovich Artamonov und war mit 31 Jahren der jüngste Kommandant eines Zerstörers der sowjetischen Ostseeflotte gewesen. 1959 floh er nach Schweden und wurde an die CIA weitergereicht. Schon ein Jahr später sagte der Überläufer öffentlich vor einem Ausschuss über Anti-Amerikanische Aktivitäten aus und klagte die UdSSR an. Er wurde Konsulent beim Marinenachrichtendienst und später in den Defense Intelligence Agency (DIA) aufgenommen.
1965 erhielt der nunmehrige Nicholas George Shadrin die US-Staatsbürgerschaft. Doch 1966 flog seine Tarnung auf. Zwei KGB-Leute wandten sich an Shadrin, um ihn zum Doppelagenten zu machen. Er berichtete dem FBI davon und man kam überein, dass er zum Schein auf das Angebot eingehen würde. Shadrin sollte den KGB mit wertlosen „Spielmaterial“ anfüttern.
Das geschah im Rahmen mehrerer diskreter Treffen im kanadischen Montreal und 1972 zum ersten Mal in Wien. Dass dieses Rendezvous problemlos verlaufen war, wiegte die US-Seite in Sicherheit. Im Dezember 1975 war deshalb Wien zum zweiten Mal an der Reihe. Alles sollte wie ein Shopping-Trip des Ehepaars Shadrin aussehen.

Die CIA-Führungsoffizierin Cynthia Hausmann und ihre Kollegen hielten sich im Hintergrund. Dabei galt Wien als eine Hochburg des KGB. Eine Observation Shadrins wurde als zu risikoreich angesehen. Er war auf sich allein gestellt. Später bedauerte Ex-CIA-Direktor Richard Helms diese Vorgangsweise: „Der schlimmste Fehler war, Shadrin diese Reise in eine Stadt wie Wien zu erlauben, wo der KGB alles leicht kontrollieren konnte.“ Auch der CIA-Agent Milt Bearden schrieb in seinen Erinnerungen, dass sich der KGB für die Operation bewusst jene Stadt ausgesucht hatte, „in der er sich am sichersten fühlte: Wien.“


Vor der Votivkirche verschwunden
Das Verhängnis nahm seinen Lauf: Am Abend des 20. Dezember 1975 nahm Shadrin ein Taxi vom Hotel Bristol zur Votivkirche – nur wenige Gehminuten von der US-Botschaft entfernt. Dort sollte er zwei KGB-Offiziere treffen. William Corson, Susan und Joseph Trento schilderten in „Maulwürfe. Die geheimen Kriege des KGB gegen die USA“ (1989) was geschah:
„Die Taxifahrt vom Hotel zur Votivkirche dauerte trotz des abendlichen Berufsverkehrs nur zehn Minuten. Shadrin kannte die Kirche von mehreren Besuchen. Von der Stelle am Rand des Parks aus, wo das Taxi ihn absetzte, überquerte Shadrin die Straße und ging zum Fuß der flachen Treppen, die zum Eingang der riesigen, düsteren neugotischen Kathedrale hinaufführen. Der Schneefall hatte schon vor einer Weile aufgehört, und die Luft hatte eine fast angenehme Temperatur. Shadrin erklomm die Treppe, stellte sich mit dem Rücken an die Bronzetüren der Kirche und spähte von seinem leicht erhöhten Aussichtspunkt aus die Straße hinab. […] Ungefähr acht Minuten, nachdem Shadrin eingetroffen war, fuhr eine viertürige dunkle Limousine vor. Der Beifahrer stieß seine Tür auf, sodass die Innenbeleuchtung des Wagens anging. […] Shadrin ging die Stufen hinunter und kletterte vorsichtig auf den Rücksitz des Wagens. Die Limousine fuhr an und fädelte sich in den abendlichen Wiener Verkehr ein.“

Seitdem Shadrin in den Wagen gestiegen ist, hat man nie wieder etwas von ihm gehört. Laut den Autoren Corson und Trenton war Shadrin wieder in die Sowjetunion „abgesprungen“. Im Alberner Hafen habe ihn ein Schiff aufgenommen und in den Ostblock gebracht. Doch diese Version gilt mittlerweile als überholt. Shadrins Verschwinden war ein Desaster für die CIA. Seine Ehefrau versuchte jahrzehntelang Gewissheit zu bekommen.
Zu viel Betäubungsmittel?
1994 behauptete der ehemalige KGB-General Oleg Kalugin in seinen Memoiren, dass Shadrin in eine Falle getappt sei. Der KGB habe von Anfang an die Absicht verfolgt, Shadrin zu entführen und in die UdSSR zu verschleppen. Spitzel innerhalb der österreichischen Polizei hätten mitgeteilt, dass von Shadrins US-amerikanischen Begleitern keine Gefahr drohte. Diese hätten sich in ihren Hotels „eingebunkert“.
Kurz nachdem Shadrin bei der Votivkirche zugestiegen sei, habe auf dem Rücksitz ein Handgemenge begonnen. Mit der Injektion eines hochwirksamen Betäubungsmittels wurde Shadrin schließlich ruhiggestellt. Dann fuhren die beiden KGB-Männer mit ihrem Opfer zur österreichisch-tschechischen Grenze, wo ein „Empfangskomitee“ wartete. Doch Shadrin war in der Zwischenzeit verstorben. Die Dosis des Sedativs sei zu hoch gewesen. In Panik soll man noch versucht haben, das Opfer noch wiederzubeleben, indem man ihm Weinbrand einflößte und eine Adrenalin-Spritze verpasste. Nichts half mehr.
Somit war die Operation ein Fehlschlag. Es gab keine Gelegenheit mehr, von Shadrins Wissen über die US-Nachrichtendienste zu profitieren. Der tote Überläufer wurde unter einem Alias in einem Moskauer Friedhof verscharrt. Offiziell bleibt Shadrins Verschwinden ein Rätsel des Kalten Krieges. Dass nur einen Tag später, am 21. Dezember 1975, der Terrorist „Carlos“ die Wiener OPEC-Zentrale überfallen sollte, ist einer dieser Zufälle, die zum Nachdenken anregen.