Der „beste Agent“ des Mossad? Marwan Ashraf & der Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges

„Wir haben nicht viel erreicht, um den Lauf der Geschichte zu verändern, oder?“ Zu diesem bitteren Schluss kommen zwei gealterte Spione in „Silverview“, einem Romanfragment von John Le Carré. Tatsächlich haben einzelne Agenten selten Einfluss auf den Gang weltpolitischer Ereignisse ausgeübt. Aber es gab solche Fälle: Richard Sorge etwa, der Stalin vor dem Angriff von Nazi-Deutschland 1941 warnte und ignoriert wurde. Oder Klaus Fuchs, Rudolf Abel und Theodore Hall, die Informationen über das Atomprogramm der USA besorgten. Und da wäre dann noch Marwan Ashraf, den man schon als „Spion des Jahrhunderts“ bezeichnet hat. Er hat vor 50 Jahren den Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges ankündigt.

Er war das Kronjuwel unter den Quellen des israelischen Auslandsgeheimdiensts Mossad: Marwan Ashraf, Codename „Engel“. Man bezahlte ihm eine Million Dollar. Niemand sonst wurde so fürstlich entlohnt. Der 1944 geborene Sohn eines Armeegenerals war nicht nur Schwiegersohn des ägyptischen Präsidenten Gamal Nasser, er diente auch dessen Nachfolger Anwar el Sadat als Sekretär und Gesandter für heikle Missionen. Marwan war Teil des innersten Zirkels des Präsidenten. 

Marwan Ashraf (Mitte) – vorne Henry Kissinger (li.) & Anwar el Sadat (re.) (Standbild aus The Spy, who fell to Earth, 2019)

Was war nun die Motivation dafür, dass sich Marwan 1969 in London von selbst als Quelle anbot?  In Israel wird diese Frage mit der bekannten Mischung aus Geldbedarf, persönlicher Frustration und dem Wunsch nach Einfluss sowie Anerkennung erklärt. Obgleich Marwan in die Familie Nassers eingeheiratet hatte, hielt ihn dieser kurz. Das änderte sich unter Sadat. Ihm empfahl sich Marwan mit belastendem Material über die alte Elite und wurde mit knapp Dreißig Teil des innersten Kreises Sadats.

Von daher ist es fraglich, ob Marwan noch mehr wollte. Auch die Sicherheit mit der er sich als Informant bewegte wirft die Frage auf, ob es nicht ein abgekartetes Spiel war. Nach dieser Lesart, die in Ägypten gängig ist, war Marwan ein Doppelagent, der die israelische Seite im Auftrag Sadats manipulierte.

Die Geschichte von Marwan Ashraf wurde 2018 für Netflix verfilmt

Dagegen bekundete der Direktor des Mossad Zvi Zamir, dass Marwan der „beste Agent“ Israels gewesen sei. Denn der „Engel“ lieferte intime Einblicke in die Planungen Sadats – von der ägyptischen Schlachtordnung („order of battle“) bis hin zu Transkripten von Besprechungen Sadats. Dieser war ab seinem Antritt im Jahr 1970 fest entschlossen, die Schmach des verlorenen Sechs-Tage-Krieges (1967) zu tilgen und die verlorene Sinai-Halbinsel zurückzuerobern. Zu diesem Zweck schloss Sadat 1971 ein Bündnis mit dem syrischen Diktator Hafiz al-Assad, der wiederum die Golan-Höhen von Israel wiedergewinnen wollte. Die Gefahr eines neuen Nahostkrieges lag somit ständig in der Luft.

Der Höhepunkt kam am 4. Oktober 1973 – zwei Tage vor dem schließlichen Ausbruch des Jom-Kippur-Krieges. Von Paris aus telefonierte Marwan mit seinem Führungsoffizier „Dubi“ und gebrauchte den Code „Chemikalien“, was bedeutete, dass der Krieg unmittelbar bevorstand. Man vereinbarte ein Treffen in einem safe house in London in den Abendstunden des 5. Oktober 1973. Marwan bestand darauf, „dem General“ – also Zamir –  die Sache persönlich darzulegen. Diese Verzögerung wird von den Anhängern der Doppelagent-These ins Rennen geführt.

Es war 23.00 Uhr, als Marwan an eine Wohnungstür in der Nähe des Lord’s Cricket Ground klopfte. Drinnen erwartete ihn Zamir, der von zehn Leibwächtern abgeschirmt wurde. Das Gespräch dauerte ungefähr zwei Stunden. Die Notizen der Unterhaltung wurden erst kürzlich vom Mossad veröffentlicht. Demnach war Marwan an Deutlichkeit nicht zu überbieten: Zu „99 Prozent“ werde der Krieg morgen, am 6. Oktober 1973, beginnen, zu Jom-Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag – und das in Form eines akkordierten Angriffs zu Sonnenuntergang. Um 03.40 Uhr morgens rief Zamir einen Untergebenen an und gab diese Details weiter.

Zvi Zamir im Jahr 1960 (Credit: Wikimedia Commons/IDF’s Spokeperson’s Unit)

Wie sich herausstellte, lag Marwan mit dem Datum richtig. Aber der Zeitpunkt der Offensive war kurzfristig auf 14 Uhr vorverlegt worden. Hier streiten sich die unterschiedlichen Lager darüber, ob Marwan dies nicht wusste, weil er im Ausland war – oder ob es ein wichtiges Element der Täuschung war.

Israel verblieb zumindest eine Zeitspanne von 16 Stunden zwischen der Warnung und dem Ausbruch der Kampfhandlungen. Aber das Land war auf dem falschen Fuß erwischt worden. Man bezahlte diese Überraschung mit schweren Verlusten in den ersten Kriegstagen. Wie hatte es soweit kommen können – trotz oder wegen Marwans Insiderwissen?

Zunächst einmal hatte Marwan nicht zum ersten Mal Alarm geschlagen. Er tat dies bereits im Mai 1972 sowie zwischen April und Juni 1973. Jedes Mal wurde kostspielig mobilgemacht. Für den Chef des militärischen Geheimdiensts Aman, Eli Zeira, war das der Punkt, Marwan zu misstrauen. Für ihn war der Ägypter ein möglicher Doppelagent, der Israel mit Fehlalarmen in die Irre führte („crying wolf“). Eben diese Unsicherheit, ob es diesmal wirklich ernst war, war der Grund, warum Zamir erst nach Ende des Gesprächs mit Marwan mit Tel Aviv telefonierte und nicht umgehend. Er wollte nicht verantwortlich für eine weitere unnötige Einberufung sein, die schweren wirtschaftlichen Schaden nach sich ziehen würde.

Eli Zeira (Credit: Wikimedia Commons/IDF Spokesperson’s Unit)

Was der Doppelagenten-These etwas Wind aus den Segeln nimmt, ist die Tatsache, dass der Aman selbst zur Ansicht gekommen war, dass die Kriegsgefahr „niedrig“ sei. Noch Ende September 1973 wurde geschätzt, dass der Krieg erst 1975 kommen werde – weil Ägypten noch keine weitreichenden Bomber habe.

Vor diesem Hintergrund erschienen die Bereitstellungen am Suezkanal als eines von vielen Manövern. Ägypten hatte alleine 1973 22 solcher Übungen abgehalten. Warum sollte es dieses Mal anders sein? Und was Syrien anging – am 28. September 1973 hatte sich in Österreich eine Geiselnahme jüdischer Auswanderer aus dem Ostblock ereignet. Das Transitlager Schönau wurde geschlossen, um die Geiseln freizubekommen. Verantwortlich war eine syrische Terrorgruppe. In diesem Zusammenhang erschienen die militärischen Aktivitäten an der Nordgrenze Israels als Vorbereitung auf mögliche Vergeltung.

Noch wichtiger war, dass sich Premierministerin Golda Meir persönlich stark involvierte. Vom 28. September 1973 gab es für sie fünf Tage lang kein wichtigeres Thema, als den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky von der Schließung Schönaus abzubringen. Am 2. Oktober 1973 reiste Meir nach Straßburg und dann nach Wien, wo sie Kreisky persönlich traf. Dieser blieb hart, auch wenn die jüdische Emigration über Österreich unvermindert weiterlief.

Als Meir gleich im Anschluss an die Visite nach Tel Aviv zurückkehrte, fand dort eine Kabinettsitzung statt. Anstatt über die militärische Lage zu sprechen, wurde ausschließlich über Schönau beraten. In der dieser kritischen Zeitspanne sei die Frontlinie Israels nicht am Suez-Kanal, sondern an der Donau verlaufen, meinte ein israelischer Minister rückblickend.

Auch das Versagen der Geheimdienste war zum Teil hausgemacht: Zeira erlaubte lediglich in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1973 den Testlauf einer hochgeheimen Kommunikationsüberwachung, die es ermöglichte die Telefongespräche ägyptischer Offiziere abzuhören. Zeiras Sorge war es, diese „besonderen Mittel“ aufs Spiel zu setzen, wenn diese einmal aktiviert seien. Er habe geglaubt, ohnedies über genügend Information zu verfügen.

Als die Rückmeldung von Zamir in den frühen Morgenstunden des 6. Oktober 1973 eintraf, sahen die Experten Zeiras immer noch keinen Grund, warum die Ägypter gerade jetzt ernstmachen sollten. Generalstabschef David Elazar dagegen verschwendete keine Zeit mehr. Auch Meir nahm die Warnung Marwans ernst. Um 9 Uhr wurde befohlen, die Reservisten einzuberufen. Ein Präventivschlag der Luftwaffe wurde wegen der befürchteten internationalen Reaktionen verworfen.

In der Vergangenheit war der politischen Führung versichert worden, dass der israelischen Armee im Ernstfall zumindest 48 Stunden bleiben würden, um zu mobilisieren. Nun musste man zur Kenntnis nehmen, dass ein Zwei-Fronten-Krieg unmittelbar bevorstand und die Mobilmachung gerade erst angelaufen war. „Sie haben uns mit heruntergelassenen Hosen erwischt“, meinte deswegen ein Offizier zu einem der Minister.

Kurz vor 14 Uhr – als die Kabinettsitzung noch im Gange war – kam dann die niederschmetternde Mitteilung, dass ägyptische Luftangriffe begonnen hatten. Bald setzten die ersten 32.000 Soldaten in 720 Booten über den Suezkanal und durchbrachen die israelischen Verteidigungsstellungen am anderen Ufer.

Der Vorstoß der syrischen Armee am Golan hingegen verlangsamte sich aufgrund des verzweifelten Widerstands einer einzigen israelischen Panzerbrigade. Dass deren Kommandant seinen Marschbefehl um 10 Uhr vormittags erhielt, war ausschlaggebend dafür, dass den Syrern eine strategisch wichtige Straßenkreuzung nicht in die Hände fiel. Auch Marwans frühere Informationen zu den ägyptischen Kriegszielen sollten sich als richtig herausstellen und gaben Israel einen Vorteil in die Hand.

Bis es soweit war, durchlebte Israel einige der dunkelsten Stunden seiner Existenz. Am dritten Kriegstag verlor Verteidigungsminister Mosche Dayan die Nerven und kündigte die Zerstörung des „dritten Tempels“ an, sprich des Staates Israel. Er wollte dagegen eine atomare „Demonstration“ setzen, was von Meir aber abgelehnt wurde. Sie selbst erhielt Selbstmordpillen für den Fall einer völligen militärischen Katastrophe.

2023 kam eine Filmbiografie von Golda Meir in die Kinos, die sich auf das Krisenmanagement während des Jom-Kippur-Krieges konzentriert

Doch dank Waffenlieferungen durch die USA, die die Unterstützung der Gegenseite durch die Sowjetunion ausglichen, gelang es Israel, den Feind bis zum 25. Oktober 1973 zurückzudrängen. Und nicht nur das: Die israelische Armee überquerte ihrerseits den Suez-Kanal und schloss die 3. ägyptische Armee am anderen Ufer ein. Ihre Panzerspitzen standen nur mehr 101 km vor Kairo, als man sich auf einen Waffenstillstand einigte. Dieser Ausgang des Krieges ebnete den Weg zu einer Verhandlungslösung mit Ägypten, das als erstes arabisches Land 1978 einen Friedensvertrag mit Israel schloss.

Aber das Desaster der ersten Kriegstage wog schwer und wurde zum nationalen Trauma. Marwans Rolle blieb zunächst geheim. Er wurde zu einem diskreten Geschäftsmann, der von London aus operierte und in Waffenhandel verstrickt war. Marwans Name sollte später in den Enthüllungen rund um die Schweizer Großbank Credit Suisse auftauchen.

Marwan Ashraf (Credit: Wikimedia Commons/Raafat)

Seine Vergangenheit holte ihn 2003 ein, als er zuerst in arabischen Medien als Mossad-Spion geoutet wurde. Danach soll Marwan noch geplant haben, seine Sicht der Dinge dazulegen. Doch am 27. Juni 2007 stürzte er vom Balkon seines Londoner Apartments in den Tod. Bis heute halten sich Spekulationen, Marwan sei in Wirklichkeit gestoßen worden. Verdächtigt wird etwa der Geheimdienst von Muammar al-Gaddafi, weil Marwan einen geplanten Terroranschlag auf ein El-Al-Flugzeug verraten hatte.

Marwan stürzte vom 5. Stock dieses Komplexes in der Carlton House Terrace (Credit: Autor)

Marwan erhielt ein Heldenbegräbnis in Kairo. Dort vertritt man bis heute die Meinung, der Mossad habe späte Rache geübt. Das sieht man in Israel genau umgekehrt. Solange die ägyptische Seite aber keine Beweise für ihre Version der Ereignisse vorlegt, ist eher davon auszugehen, dass Marwan tatsächlich „nur“ für Israel gearbeitet hat.