Verpasste Gelegenheit? Kreisky und die Warnung vor dem Jom-Kippur-Krieg

Vor 50 Jahren, am 6. Oktober 1973, brach der Jom-Kippur-Krieg aus. Durch den abgestimmten Überraschungsangriff Ägyptens und Syriens geriet Israel knapp an den Rand der Niederlage. Bis zum 25. Oktober 1973 gelang es den israelischen Streitkräften aber, die Feinde zurückzudrängen. Doch hohen Verluste und die Tatsache, dass es den arabischen Armeen gelungen war, Israel zu überrumpeln, machten den Jom-Kippur-Krieg bis heute zum nationalen Trauma.

Mittlerweile ist bekannt, dass Israel mit Marwan Ashraf einen Spion in den höchsten Rängen des ägyptischen Regimes hatte. Dieser hatte den Direktor des israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad noch am Vorabend des Angriffs entsprechend gewarnt. Das führte dazu, dass zumindest die Reservisten vier Stunden vor Kriegsbeginn einberufen wurden.

Es gab allerdings noch eine zweite Warnung, die im Vergleich zu jener von Marwan bislang wenig Resonanz gefunden hat.

Der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky hatte am 3. Oktober 1973 Besuch von dem ägyptischen Tourismus- und stellvertretenden Außenminister Ismail Fahmy. Die beiden kannten einander. Fahmi war 1968/1969 Botschafter in Österreich gewesen. Man unterhielt sich eine Stunde lang.

Grund für die kurzfristig angekündigte Visite war ein Anschlag, der sich wenige Tage zuvor ereignet hatte. Am 28. September 1973 hatten zwei arabische Terroristen jüdische Auswanderer in einem Zug beim Grenzbahnhof Marchegg als Geiseln genommen. Österreich war damals nämlich die Transpiration für die jüdische Emigration aus der UdSSR. Das wiederum rief arabische Gruppen auf den Plan, diese demografische Stärkung Israels zu unterbinden.

Bildbericht in der Arbeiter-Zeitung

Kreisky löste die Geiselkrise noch in den Nachstunden des 29. September 1973 unblutig, indem er den Terroristen freies Geleit zusicherte und von sich aus anbot, das Auswandererlager Schönau an der Triesting zu schließen. Auch wenn die jüdische Emigration auch danach weiterging, so entzündete sich kurzfristig eine scharfe Kontroverse.

Die israelische Premierministerin Golda Meir kam am 2. Oktober 1973 nach Wien, um Kreisky von der Schließung Schönaus abzubringen. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die israelische Politik von den Ereignissen in Österreich abgelenkt war. Die beiden Terroristen gaben später an, die Geiselnahme habe in Wirklichkeit das Hauptziel verfolgt, Israel von den Kriegsvorbereitungen Ägyptens und Syriens abzulenken.

Der militärische Aufmarsch erschien vor dem Hintergrund der Geiselname als defensives Manöver, um sich gegen allfällige israelische Vergeltungsschläge zu wappnen. Für ein solches Täuschungsmanöver spricht auch, dass die Organisation Al Saika, die für den Terrorakt die Verantwortung übernahm, vom syrischen Geheimdienst kontrolliert wurde. Einer der beiden Terroristen bekannte später in einem Interview:

„Wir wollten die Israelis in die Falle locken. Die Israelis sind auf diesen Trick hereingefallen. Sie hielten die arabischen Truppenkonzentrationen für simple Verteidigungsmanöver.“

Keine 24 Stunden nach Meir empfing Kreisky den bereits erwähnten ägyptischen Minister Fahmy. Dieser überbrachte eine Dankesbotschaft von Präsident Anwar as-Sadat.

Ismail Fahmy 1975 (Credit: Wikimedia Commons)

Laut Hans Thalberg, einem engen Vertrauten Kreiskys, war Fahmy gekommen, „um sich bei Kreisky über die neue Lage nach der Schließung von Schönau zu erkundigen“. Doch gegen Ende ließ Fahmy sprichwörtlich eine Bombe platzen: Ein „neuer israelisch-arabischer Krieg“ sei „unausweichlich“ und noch vor Jahresende sei mit dem Kriegsausbruch zu rechnen. Kreisky schüttelte „halb beunruhigt, halb verwundert den Kopf und begab sich auf eine Wahlreise nach Oberösterreich“. Dort stand nämlich am 21. Oktober 1973 eine Landtagswahl an.

Kreisky selbst schreibt in seinen Memoiren, Fahmy habe beim „Weggehen“, „kryptische Andeutungen über einen bevorstehenden Krieg“ gemacht:

Ich musste ihn hastig verabschieden, weil ich in Ried im Innkreis an einer Wahlversammlung teilnahm. Trotz rasender Fahrt kamen wir zu spät. Im Auto besprachen mein Mitarbeiter Botschaft Thalberg und ich die Ereignisse, und ich meinte, das sei doch eine merkwürdige Äußerung gewesen, die Fahmi da am Schluss gemacht habe. Offenbar rechne man in nächster Zeit mit einer militärischen Konfrontation.“

Kreisky ist hier die Chronologie durcheinandergekommen. Er war nämlich erst am 6. Oktober 1973 in Ried im Innkreis – wie aus den Erinnerungen Thalbergs hervorgeht. Demnach wurde der Bundeskanzler an diesem Tag aus der Küche des Messerestaurants ans Telefon gerufen. Kreisky erfuhr folgendes:

„Eine starke und gut ausgerüstete ägyptische Armee hatte, von israelischen Vorposten unbemerkt, auf breiter Front den Suezkanal überschritten und stieß nach dem Norden vor. Der Kanzler war sichtlich erschüttert. Im Großen Saal des Messegebäudes spielte eine Musikkapelle österreichische Märsche, niemand ahnte etwas von der dramatischen Nachricht, die Kreisky soeben erhalten hatte. Der Oktoberkrieg, den die Israelis Jom-Kippur-Krieg nennen, hatte beginnen.“

Das heißt, nachdem Fahmy den Kriegsbeginn angesprochen hatte, wären Kreisky noch mindestens 48 Stunden geblieben, Israel zu warnen.

Am Tag nach dem Treffen, dem 4. Oktober 1973, wurde ein Dankschreiben an Sadat aufgesetzt. Darin versicherte Kreisky unter anderem seinen „aufrichtigen Wunsch, dass allen Menschen im Mittleren Osten ein Leben in Sicherheit und Frieden gewährleistet werden soll. Nur auf dieser Grundlage werden die großen Errungenschaften in diesem Teil der Welt zum Wohl der Völker geschrieben.“

Auszug aus dem Dankschreiben Kreiskys (Credit: StBKA)

Laut der 2010 erschienenen Biografie von Simon Wiesenthal der israelische Historiker Tom Segev, entschuldigte sich Kreisky zehn Tage nach Kriegsausbruch beim israelischen Botschafter Jitzhak Patish, dass er diesen „nicht umgehend“ über Fahmys Aussagen unterrichtet hatte. Kreisky habe den ägyptischen Minister nicht ernst genommen. Ein Empfänger von Patishs Bericht im israelischen Außenministerium kommentierte das so: „Dieser Mann wusste angeblich von dem bevorstehenden Angriff und hielt es nicht für richtig, uns zu warnen.“

Meir habe Kreisky später gefragt, „warum er über das Gespräch mit Fahmy der israelischen Regierung keine Mittelung zukommen ließ“, so Thalberg. Gleich im Anschluss gab der Kreisky-Vertraute eine kryptisch formulierte Erklärung dafür: „Wie wäre eine derartige Nachricht Kreiskys in der vollkommen vergifteten Atmosphäre der Diffamierungskampagne gegen den österreichischen Bundeskanzler in Jerusalem aufgenommen werden?“

Thalberg sprach damit das negative Klima in Israel nach der Schließung von Schönau an und schloss, dass sich deswegen ein Kontakt auf offiziellen Kanälen erübrigt hätte.

Aber man hatte offenbar einen anderen, informellen Weg genutzt.

Am 4. Oktober 1973 hatte Kreisky einen Interviewtermin mit dem israelischen Journalisten Ben Porat. Darin kam der Bundeskanzler auf etwas zu sprechen, das „off the records“ sei. Er sagte zu Porat: „You will soon have a war“ und bezog sich auf eine ägyptische Persönlichkeit, ohne Fahmy beim Namen zu nennen.

Dieser indirekte Versuch, Israel zu warnen, versandete allerdings. Porats Vorgesetzter soll entschieden haben, nichts zu bringen, um die Öffentlichkeit nicht zu verunsichern. Vorher soll er bei eigenen Quellen im israelischen Sicherheitsapparat nachgefragt haben, ob man dort etwas von Kriegsvorbereitungen wisse, was verneint wurde.

Abschließend bleibt die Frage, wie ernst und unmittelbar die Ansage Fahmys tatsächlich zu verstehen war. Erst am 2. Okober 1973, dem Vortag von Fahmys Visite, soll Sadat seinen Kriegsminister Ahmad Ismail über den genauen Zeitpunkt der Offensive informiert haben. Wie wahrscheinlich ist es, dass Fahmy in diese streng geheimen Vorgänge involviert war?

Vor diesem Hintergrund erscheint die Warnung vor allem als diplomatische Drohgebärde, um Handlungsdruck aufzubauen, Israel an den Verhandlungstisch zurückzubringen. Das könnte erklären, warum Kreisky zwar verunsichert war, aber nicht alarmiert reagierte.